Erst Blumenblüten, dann die Neubautätigkeit in Berlin hat der Fotograf Michael Wesely mit Langzeitbelichtungen beobachtet. Und so den zeitlichen Verlauf in die auf den Augenblick konzentrierte Fotografie hineingeholt. Nun greift er weiter aus und untersucht, wie die Vergangenheit des gebauten Berlins in der Gegenwart durchscheint.
Am Potsdamer Platz und im Regierungsviertel drehten sich die Kräne unzählige Male hin und her und um ihre eigene Achse, bis Neues entstanden war. In eine einzige Fotografie zusammengerafft, blieben von dieser Tätigkeit am Ende nur flüchtige Spuren, ein verwischtes Grau über den schlussendlich entstandenen Glasbauten. So hat es Michael Wesely dokumentiert, der 1963 in München geborene und in Berlin lebende Fotokünstler, der sich mit seinen ungemein dekorativen Langzeitbeobachtungen verblühender Blumen einen Namen gemacht hat.
Nun aber ist er in die Archive gestiegen. Entdeckt hat er die großformatigen Glasnegative der einstigen Königlich Preußischen Messbildanstalt – Aufnahmen mit der Plattenkamera, so wirklichkeitsgetreu wie nur irgend möglich und so exakt, dass man von ihnen maßstabsgetreue Bauzeichnungen anfertigen konnte. Tatsächlich ging es seinerzeit darum, ein fotografisches Denkmalarchiv anzulegen. Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs ist dieser weitgehend ungehobene Schatz nur noch wertvoller geworden, dokumentiert er doch, wie die Städte in Preußen und vor allem die Hauptstadt Berlin um 1900 herum ausgesehen haben.
Kontinuum der Geschichte
Diese Aufnahmen in den Formaten 30 mal 30 oder 40 mal 40 Zentimetern hat sich Wesely als Bilddateien auf sein Smartphone geladen und ist damit in den vergangenen Jahren auf die Suche gegangen: Wo genau standen die abgebildeten Bauten, und wichtiger noch, wo stand der Fotograf? Es war nicht leicht, dessen Position jeweils auszumachen, aber wenn, dann fotografierte Wesely in derselben Perspektive das, was sich ihm als Gegenwart darbot.
Beide Fotografien legte er dann am Bildschirm sacht übereinander, sodass unter der Gegenwart die Vergangenheit durchschimmert. Und mit einem Mal hat der heutige Betrachter nicht einfach zwei Aufnahmen aus weit auseinander liegenden Zeiten vor sich, sondern ein Kontinuum, eben den Verlauf der Geschichte, die sich in mehr als 100 Jahren zugetragen hat.
Es ist ein Verlauf von Zerstörung, von Krieg, Abriss, Neuplanung und Überbauung. Und von räumlicher Entleerung: So dicht bebaut wie einst ist Berlin an vielen Stellen nicht mehr, oder aber es haben sich ganze Straßenverläufe verändert, sind verbreitert worden.Etwa um die Gedächtniskirche herum, die in ihrer teilzerstörten Gegenwartsform viel mehr Raum beansprucht als das einstige Wahrzeichen des "Neuen Westens" der Reichshauptstadt.
Zufälliges und Dauerhaftes
Ausgestellt sind die Doppelbelichtungen unter dem Titel "Doubleday" in der Ausstellung "Berlin 1860 – 2023" im Museum für Fotografie der Staatlichen Museen neben dem Bahnhof Zoo. Auch den hat Wesely genau in den Blick genommen und zeigt in einer faszinierenden Aufnahme, dass hier einst Rummel und Vergnügen neben dem noch kleinen Bahnhof Platz hatten, gewissermaßen am Rand der zivilisierten Stadt.
Was ebenso fesselt, sind die Details, die Wesely aus etlichen Messbild-Platten herauspräpariert hat. Unter dem Titel "Human Conditions" sind auch diese Fundstücke jetzt zu sehen. Einzelne Personen, die damals zufällig im Bild standen, Namensschilder und Firmenbezeichnungen an Hauseingängen; sogar eine abgestellte Bierflasche, aus der eben noch getrunken worden war. Oder eben temporäre Buden am Zoo, denen der auf Ewigkeit gerichtete Blick der Messbild-Fotografen nun wahrlich nicht gegolten hatte.
So mischen sich Zufälliges und Dauerhaftes. Wobei das Dauerhafte eben auch nicht dauerhaft war, sondern spätestens im Bombenkrieg unterging. In Michael Weselys ungemein eindrucksvollen Kompositionen ist die Geschichte Berlins über 120 und mehr Jahre hinweg aufgezeichnet, buchstäblich "gezeichnet", in zart überblendeten Formen und Umrissen. Was vergangen schien, ist mit einem Mal nicht mehr vergangen, sondern eine zweite Gegenwart, die hinter dem Vordergrund lauert.