Ein leitender Gedanke weiter Teile der europäischen Philosophie im 20. Jahrhundert besteht darin, dass sich das, was wir mit dem groben Arbeitsbegriff "Welt" bezeichnen, in seiner Zusammensetzung und der Art, wie es uns als Menschen umgibt, nicht darin erschöpft, aus materiellen Gegenständen zu bestehen, die einen Ort, eine Ausdehnung im Raum und gewisse intrinsische Eigenschaften haben, die wir dann neutral und analytisch wahrnehmen. Im Gegenteil sind, das lehren uns verschiedene Spielarten von Phänomenologie und Existenzphilosophie, unsere Wahrnehmungen immer schon mit Gerichtetheit aufgeladen und unser Sein in der Welt untrennbar verbunden mit der Art und Weise, wie wir darin handeln.
Wenn wir uns etwa an Hermann Schmitz und Gernot Böhme halten, dann ist es sogar so, dass unsere eigene Leiblichkeit in jeder Wahrnehmung mitschwingt, und dass uns "Atmosphären", die nach Böhme "Halbdinge" sind, umwabern. Gibt es nun etwas Atmosphärisches, das uns in Deutschland im Herbst 2021 ganz besonders umwabert, vielleicht sogar mit einem gewissen Zug des "Immer-schon", als wären wir darin eingelegt wie ein Sülzkotelett? Ja, das gibt es, und es hat sogar einen spezifisch erkenntnistheoretischen Zug.
Als Kind im Westdeutschland der späten 80er-Jahre habe ich mich viel mit Lebensmittelverpackungen beschäftigt. Insbesondere niederländischsprachige Zutaten-Angaben faszinierten mich. Aber worüber ich mich vor allem wunderte, war, dass das Großgedruckte auf den Packungen immer deutschsprachig war. Irgendwann ist mir aufgefallen, dass Markenartikel in manchen Ländern nicht durchweg dick in der Landessprache beschriftet sind. Dies wird sogar von einheimischen Herstellern imitiert – ich erinnere mich noch gut an eine Flasche mongolische Apfelsaftschorle mit der Aufschrift GRANTIERTE QUALITATE. Das zu verstehen, ist wahrscheinlich so ähnlich, wie als gebürtige:r Amerikaner:in zu begreifen, was synchronisierte Filme sind. So wie jedes amerikanische Leben dadurch gefärbt ist, sich an einem dominanten Standort der Film- und Fernsehbranche abzuspielen, ist jedes deutsche Leben dadurch ausgezeichnet, dass die Marken, die in ihm Stadtbilder, Werbefernsehen, Wirtschaftsnachrichten und Supermarktregale dominieren, zu einem abnorm großen Teil heimische Marken sind.
Diagonales Resonanzphänomen
Dabei sind deutsche Marken nicht nur durch Omnipräsenz charakterisiert, sondern vor allem durch ihre hochwertige, aber konfliktarme Mittelmäßigkeit. Kaum eine deutsche Marke steht irgendwie für Dekadenz, Luxus, Irrsinn und Unzuverlässigkeit, aber es steht auch keine für die Speerspitze des Fortschritts, für glitzernde, sciencefictionhafte Perfektion. Deswegen ist es konsequent, Deutschland, wie es ist und wie es regiert und verwaltet wird, genau darauf herunterzubrechen. In Anlehnung an den Begriff des Normcore könnte man diesem Phänomen den Namen Merkelcore geben; und der Hauptfundort für Texte, die absichtlich Merkelcore sind, sind soziale Medien wie Twitter, der Subreddit /r/ich_iel, vor allem aber die satirische "Titanic"-Kolumne von Dax Werner.
Merkelcore, das ist also der unbedingte Wille, das Atmosphärische der deutschen Markenwelt als etwas Positives, Harmonisches wahrzunehmen, ja Deutschland als Markenwelt geradezu leiblich zu leben oder zumindest so zu tun als ob. Mit Hartmut Rosa könnte man sagen: Merkelcore ist ein diagonales Resonanzphänomen. Merkelcore ist die Darstellung und das Erleben von Deutschland als eine ungeheure Zusammenballung von soliden, aber langweiligen deutschen Marken; darin inbegriffen Phänomene außerhalb der Werbewirtschaft, die deutsche Marken sind, und damit vor allem auch Menschen, die auf völlig selbstbewusste Weise deutsche Marken sind: neben Angela Merkel etwa Günther Jauch, Heidi Klum oder Ralph Ruthe.
Merkelcore ist dabei insofern hyperrealistisch, als dass alles außerhalb der völligen Middle-of-the-Road-haftigkeit der deutschen Markenwelt ausgeblendet wird – das tatsächlich Provinzielle, das gewaltsam Spießige ebenso wie das echt Urbane und das wirklich Weltläufige. So erscheint Berlin unter seinem DERTOUR-Städtereisen-Aspekt (Fernsehturm, Reichstagskuppel, Spreegold, Souvenirs aus dem Ampelmann-Shop, Tegernseer aus dem Späti, Übernachtung bei Motel One) beispielsweise als einhundert Prozent Merkelcore; das Berlin, das ein weltweit bedeutender Standort für die medizintechnische Industrie, die queere BDSM-Szene oder den Kunstmarkt ist, dagegen überhaupt nicht.
Intrinsisch nostalgisch
Im Merkelcore werden auch deutsche Eigenarten, die vielen gar nicht als erhaltenswert gelten, zu Marken stilisiert – zum Beispiel die schlechte Mobilfunkabdeckung, die irre Parallelwelt deutschsprachiger Countrymusik, der staubige Business-Sprech schwäbischer Mittelmanager oder die Tatsache, wie viele Papierbelege bei ganz alltäglichen Verrichtungen involviert sind. Daher ist Merkelcore intrinsisch nostalgisch.
Das Merkelcore-Medium schlechthin (wenngleich unfreiwillig) ist denn – noch vor "Bares für Rares" – auch ein Oldiesender, nämlich das Schwarzwaldradio, ein mittlerweile bundesweit empfangbarer Kanal, noch mit ganz klassischen Musikredakteurssendungen, bei denen ein schwadronierender Herr mit südwestdeutschem Akzent eine Stunde lang unbekannte französische Beatmusik aus den 60ern auflegt. Dann läuft Werbung für eine auf Mülltonnenreinigung spezialisierte Firma aus Offenburg und ein Hörer ruft an, der gerade auf dem Ruhrschnellweg im Urlaubsstau steht. Das ist Merkelcore.
Überhaupt Urlaubsstau: Es ist zwar auch Merkelcore, im ICE-Bordbistro zwischen Wiesbaden und Fulda morgens um acht schon das zweite Weizen zu bestellen, aber vor allem ist Merkelcore eng verknüpft mit der deutschen Marke Autobahn. Anfang August bin ich mit meinem nagelneuen elektrischen VW nach Regensburg gefahren und habe unterwegs bei einem gleichfalls nagelneuen Ladepark beim Autohof Thiersheim nachgeladen. Dort steht groß an der Wand, dass man im Autohof einen Euro Rabatt auf einen Kaffee bekommt, wenn man ein Selfie von sich, dem Auto und der Ladesäule an der Kasse vorzeigt. Der Autohof selbst war eine riesige, landgastronomisch angehauchte Einrichtung mit Merkelcore-Humor über den Urinalen sowie Bildschirmen, die Fitnesssalate, Lachsfilet mit Senfsauce, BBQ-Burger und andere Merkelcore-Gerichte bewarben. Ich kaufte einen Tchibo-Vollautomaten-Kaffee, zeigte an der Kasse mein Selfie vor und Autokennzeichen, Datum, Uhrzeit und der Betrag 1,– € wurden penibel mit Kugelschreiber in einem Schnellhefter mit Klarsichtdeckel vermerkt, bevor mir der Rabatt berechnet wurde. So etwas nicht nur amüsiert zur Kenntnis zu nehmen, sondern es ironisch-unironisch zu feiern, unter einem Aral-Tankstellenschild, eine Büchse Paderborner in der Hand: Das ist Merkelcore.
Ohne Ende
Mit dem Ende der Amtszeit von Angela Merkel wird Merkelcore indes nicht enden, auch wenn alle Parteien, irrerweise sogar die Union selbst, einen irgendwie radikalen Bruch mit den letzten 16 Jahren angekündigt haben, der sich natürlich nicht ereignen wird. Merkelcore wird sich vielleicht sogar eher noch verstärken, denn der intrinsisch nostalgische Zug wird sich dann mit der Wahrnehmung tatsächlichen Vergangenseins paaren.
Vielleicht werden wir in zehn Jahren Merkelcore-Mottopartys feiern, bei denen wir so tun, als wäre all das, wofür die Merkeljahre standen, Vergangenheit – die Braunkohle, die Commerzbank, die absurd dekorierten Optikerschaufenster, das magere Datenvolumen. Aber wir werden nur so tun, denn es wird vermutlich ewig weitergehen.