Lady Gagas Fleischkleid

Memento mori auf dem roten Teppich

Vor zehn Jahren trug Lady Gaga bei den Video-Music-Awards ein Kleid aus Fleisch – und läutete damit die endgültige Verschmelzung von Kunst und Popkultur ein

Colour Blocking, Schnurrbärte und Nerdbrillen: die Mode der späten 2000er-Jahre war geprägt von derart unangenehmen Trends, dass man sich ihre Wiederkehr selbst in ironisch gebrochener Form schwerlich vorstellen kann. Trotzdem gibt es mindestens einen Grund, warum der Blick zurück auf das modisch dunkle Zeitalter lohnt: Lady Gaga, deren schlagezeilengenerierende Camp-Outfits ein Massenpublikum mit den Entwürfen von Rei Kawakubo und Alexander McQueen und den Spielarten der Haute Couture vertraut machten. Als die 2010er-Jahre anbrachen, war die Popsängerin längst zur Ikone der exzentrischen, kompromisslosen Mode geworden, und doch gelang es ihr exakt am heute Samstag vor zehn Jahren noch einmal, sich selbst zu übertreffen.

Bei den MTV-Video-Music-Awards (VMA) am 12. September 2010 erhielt die Künstlerin insgesamt acht Auszeichnungen, die sie in ständig wechselnden Outfits entgegennahm. Den finalen Hauptpreis "Musikvideo des Jahres" nahm sie in einem Ensemble im Empfang, das bis heute fest im popkulturellen Gedächtnis verankert geblieben ist: Ein Kleid aus rohem Fleisch samt fleischigen Plateau-Schuhen, Filet-Kopfbedeckung und metallverzierter Steak-Clutch, die Gaga bei ihrer Dankesrede kurzerhand der Moderatorin Cher in die Hand drückte. 

Gaga war bei weitem nicht die erste, die um den Schock-Faktor fleischiger Gewänder wusste: 1984 bebilderte die New Wave-Band The Undertones ihr Album "All Wrapped Up" mit einer Dame in Speckschwaten-Kleid, die tschechisch-kanadische Performancekünstlerin Jana Sterbak nähte 1987 für ihr Werk "Vanitas: Flesh Dress for an Albino Anorectic" gut 20 Kilo Flankensteaks zu einem knielangen Gewand zusammen und Performancekünstler Zhang Huan spazierte 2002 mit einem Hulk-ähnlichen Anzug aus Muskelfleisch durch New York. Auch aus den transgessiven Schock-Performances der 60er- und 70er-Jahre, allen voran Carolee Schneemanns Fleischeslust-Gelage "Meat Joy" voll nackter Körper und roher Biomasse, wäre Fleisch nicht wegzudenken.

Auf Tuchfühlung mit dem Abjekt

Inspiration fand Lady Gaga jedoch nicht in der zeitgenössischen Kunst, sondern bei ihrer Maskenbildnerin Val Garland, die zu den Hochzeiten des Punk in den 70er-Jahren bluttriefende Party-Outfits aus Steaks und Speck trug. Von ihren Stylisten ließ sie sich vor Ort einnähen in die leicht verderblichen Bestandteile ihrer Gardarobe, die in Kühlboxen angeliefert wurden – eine tiefe Verneigung vor den Eigenheiten der Mode, die sich, wie schon Georg Simmel wusste, über Kategorien wie Schönheit und Praktikabilität hinwegsetzt.

Doch Lady Gaga ging es um mehr als ein modisches Statement. In einem Interview erklärte sie das Kleid als ein Statement gegen die homophobe "Don't Ask, Don't Tell"-Policy, die es homosexuellen Mitgliedern US-amerikanischen Militärs verbot, ihre sexuelle Orientierung preiszugeben: "Totes Fleisch ist totes Fleisch. Jeder, der bereit ist, sein Leben für sein Land zu geben, ist gleich." Wie bei Jana Sterbak dient das Fleischkleid auch bei Lady Gaga als Memento mori. In seiner Vanitas-Funktion ist das Fleischkleid ein feminines Versatzstück von Damien Hirsts Taxidermie-Exzessen, die durch tausende Liter Formaldehyd und dicke Glaswände Distanz von der Vergänglichkeit des toten Fleisches suchen. Es trägt die klamme Realität des Fleischseins direkt auf der Haut und erzwingt eine flächendeckende Berührung mit dem Abjekt. Dass Gaga diesen künstlerischen Tropus vor zehn Jahren mitten hinein ins Herz des Pops trug, war der Auftakt für eine Dekade, die sich durch neue Hybridformen von Hoch- und Populärkultur und einer Dematerialisierung von Genregrenzen auszeichnete.

Heute steht das Fleischkleid, als Beef Jerky haltbar gemacht, in der "Rock and Roll Hall of Fame" in Cleveland, Ohio. Am 30. August fanden die VMA erneut statt und wieder hielt Lady Gaga zahlreiche Auszeichnungen. Ihre insgesamt fünf Preise nahm sie der Ästhetik ihres Pop-Comeback-Albums "Chromatika" gemäß in alienhaften Masken, Astronautenhelmen und metallischen Bodysuits. Ein Fleischkleid ist heute nicht nur aufgrund von Hygienebedenken und einem gesteigerten gesellschaftlichen Bewusstsein für Tierschutzrechte schwer vorstellbar. Die Zeiten des Exzesses sind vorbei, an die Vergänglichkeit des menschlichen Körpers muss im Jahr 2020 niemand mehr erinnert werden. Stattdessen erblüht auch in Gagas VMA-Looks der Retrofuturismus und mit ihm die Sehnsucht nach einer Zeit, in der die Zukunft noch verheißungsvoll erschien.