Kinofilm "May December"

Nachahmung als Obsession

Im Film "May December" von Todd Haynes liefern sich Julianne Moore und Natalie Portman faszinierende Machtspiele. In dem Melodram dringt eine Schauspielerin in die dunkle Geschichte einer Familie ein - zu einem hohen Preis 

Der Film beginnt mit Schmetterlingen, die auf ausgetrockneten Blüten tanzen. Schwüle Hitze herrscht in Georgia, die Bilder grobkörnig, die Farben verblichen. Etwas deplatziert wirkende Klaviermusik ertönt, um den Auftritt der Schauspielerin Elizabeth (Natalie Portman) zu unterstreichen, die in einem Wagen vorfährt. 

Sie ist angereist, um eine neue Filmrolle vorzubereiten. Mit Sonnenbrille und, eigentlich unpassend, elegantem Kleid schreitet sie auf das Haus am Wasser zu. Dort wohnt die Frau, deren jüngeres Ich Elizabeth verkörpern soll. Im Garten findet eine Grillparty statt. Es läuft Musik, die Stimmung ist ausgelassen. Jedoch stimmt etwas nicht, die Euphorie wirkt aufgesetzt, kontrolliert. Nicht ohne Grund: denn die Vergangenheit des Paares, um das es hier gehen soll, hat es in sich. 

Als verheiratete Mutter hatte die damals 36-jährige Gracie (Julianne Moore) den 13-jährigen Joe kennen und lieben gelernt. Als die Affäre bekannt wurde, musste sie wegen Vergewaltigung eines Minderjährigen für sieben Jahre ins Gefängnis. Nach der Entlassung heiratete sie den inzwischen volljährigen Joe und sie bekamen drei Kinder. Zwei von ihnen werden in den nächsten Tagen ihren High-School-Abschluss machen. Die geplante Feier schwebt wie ein drohendes Unheil über dem ganzen Film, das alles zuvor Geglaubte auf die Probe stellen wird. Mit "May December" liefert Regisseur Todd Haynes ein tiefgründiges Psychogramm einer Familie, deren Vergangenheit so traumatisch wie verstörend ist.

Die inhaltsleere Fassade durchdringen

Als Vorbild für das Drehbuch ließ sich der Autor Samy Burch von einem realen Prozess inspirieren. 1996 verführte die 34-jährige Mary Kay LeTourneau, eine verheiratete Grundschullehrerin und vierfache Mutter, ihren damals zwölfjährigen Schüler Vili Fualaau. Auf dieser Basis schrieb Burch einen Film, in dem wiederum der Plan erzählt wird, diesen wahren Stoff ins Kino zu bringen. Wobei Todd Haynes mit einer Szene des fertigen Films im Film andeutet, dass die Beteiligten keineswegs an einer differenzierten Darstellung der Geschichte interessiert sind. Außerdem wird Elizabeth als eher durchschnittliche, wenn auch ambitionierte Schauspielerin charakterisiert, die es auf Starruhm abgesehen hat – und ihren eigenen Anspruch als Charakterdarstellerin wahrscheinlich nicht erfüllen wird. Gewissenhaft studiert sie Gracies Verhalten, schnüffelt im Privatleben der Familie herum und verschont auch die Kinder der beiden nicht.

Vor allem aber wird das Publikum Zeuge eines Zweikampfs der beiden Frauen, die sich mit lauwarmen Komplimenten zu entwaffnen versuchen. Die Oscar-Preisträgerinnen Natalie Portman und Julianne Moore spielen ihre widersprüchlichen Charaktere mit großer Intensität, die sich in ihrer Rolle als manipulative Rivalinnen zu Höchstleistung anspornen. 

Dabei sind sich Gracie und Elizabeth ähnlicher, als ihnen lieb ist. Die unheimlichen Parallelen werden in den vielen Spiegelszene am deutlichsten. Einmal lässt Todd Haynes die Frauen zugleich in einem Badezimmerspiegel erscheinen, beide drohen auf beklemmende Weise, wie in Ingmar Bergmans "Persona", in eine Figur zu verschmelzen. Elizabeth scheint Gracies Habitus komplett in sich aufnehmen zu wollen. Nachahmung wird zur Obsession, Schauspiel erscheint als Flucht vor wahren Abgründen. 

Das Spiel mit dem Opfer

In eindringlichen Szenen entfaltet Haynes das Machtspiel zweier Frauen, die es miteinander aufnehmen können. Wenn Gracie Elizabeth ihre Kosmetikprodukte zeigt und beginnt, ihre Konkurrentin gespielt naiv und berechnend zu schminken, wirkt das wie der Versuch, Elizabeth zur Puppe zu degradieren. Rätselhaft bleibt, was Gracie wirklich von sich preiszugeben bereit ist. Man spürt ihren Versuch, das Bild, das sie Elizabeth gegenüber abgibt, kontrollieren und lenken zu wollen.

Elizabeth wiederum nimmt man ihren Anspruch auf Wahrhaftigkeit nicht ab. Vielmehr spielt Natalie Portman eine lokale Soap-Darstellerin, die sich durch die skandalumwobene Filmrolle zum Star mausern will, mit allen Mitteln. Letztlich ist alles, was sie den Beteiligten mit den Instinkten einer Profilerin entlockt, Substanz für ihr geplantes Comeback. Mit Beharrlichkeit wühlt sie in der Vergangenheit, die die Familie verdrängt hat. Gracie hält am Narrativ der verbotenen Liebe mit Joe fest, und es scheint sie mit Stolz zu erfüllen, dass sie es als Paar der Welt gezeigt haben. Fragen von Missbrauch oder Ausbeutung scheinen in ihrer Wahrnehmung keinen Platz zu haben. Julianne Moore lässt die Wunden, die Gracie geschlagen, sich aber auch selbst zugefügt hat, auf eindrucksvolle Weise durchscheinen.

Wer ist das Opfer? Gracie oder Elizabeth? Und was ist mit Joe, der seine Familie liebt, aber bestürzend jung wirkt, und der nicht mehr nur das ehemalige Missbrauchsopfer von Gracie ist – sondern auch von Elizabeth ausgebeutet zu werden droht? Ein Träumer, dem man nur wünschen kann, dass er sich wie ein Schmetterling aus seinem ewigen Kokon befreien wird.