Max Herre über seinen Bauhaus-Großvater

"Es lohnt sich, seine Geschichte zu erzählen"

Der Bauhaus-Gestalter Richard Herre gehörte zu den Entwerfern der Stuttgarter Weißenhofsiedlung. Zusammen mit der Marke e15 bringt sein Enkel, der Musiker Max Herre, nun Einrichtungsgegenstände des Designers auf den Markt

Herr Herre, Sie haben kürzlich den Stuhl "Stuttgart" mit e15 auf den Markt gebracht, wie sieht der aus?

Er wirkt wie aus einem Guss. Wie mit großzügiger Hand auf Papier gemalt. Die Vorderbeine gehen in einem Schwung über in die Arm- und Rückenlehne und dann darunter die Sitzfläche, die mit Leder gepolstert ist. Die Stuhlbeine sind rechteckig und leicht eingedreht. Eine sehr schlichte, harmonische Form.

Monopol: Er wurde von Ihrem Großvater entworfen. Richard Herre, der war Architekt, Designer, Publizist. Und er hat in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung die Inneneinrichtung des Hauses von Max Taut entworfen.

Ja, es ist ein Stuhl seiner Zeit und mein Großvater ein Vertreter eben dieser. Heute gilt die Weißenhofsiedlung mindestens in Deutschland als eines der wichtigsten Baudenkmäler des "Neuen Bauens".

Womit hängt die Wiederentdeckung Ihres Großvaters zusammen?

Die Weißenhofsiedlung war ein Ausstellungsprojekt vom Deutschen Werkbund und jährt sich 2027 zum 100. Mal, und ich glaube, mit dem 100-jährigen Bauhausjubiläum und mit diesem neuen Jubiläum am Horizont wird noch mal genauer geschaut, wer da neben den großen Namen wie Mies van der Rohe und Le Corbusier noch so mitgewirkt hat.

Auch einen Kelim haben Sie nun auf den Markt gebracht. Auch mit e15, die 1995 in London gegründete und heute in Frankfurt sitzende Firma, die zum Beispiel bekannt ist für ihren Backentisch-Beistelltisch. Wie sah denn die Zusammenarbeit aus?

2018 habe ich die Inhaber, die Designerin Farah Ebrahimi und den Architekten Philipp Mainzer, durch einen sehr guten Freund kennengelernt. Ich wusste, dass sie mit Ferdinand Kramer schon eine Edition herausgebracht hatten. Ein Designer und Architekt dieser Ära, der auch involviert war in die Weißenhofsiedlung, er hat das Haus von Mies van der Rohe eingerichtet. Wir trafen uns und ich hatte eine Mappe dabei, in der unter anderem Teppich-Entwürfe von meinem Großvater waren.

Der Kelim "Zet" wurde 1926 für Max Tauts Wohnung entworfen. War dieses Design in der Mappe? Oder hat Ihre Familie ein Archiv?

Seine Entwürfe waren teilweise noch im Besitz unserer Familie. Aber dieser Kelim hat auch mit einem Artikel in der Monopol zu tun, in dem ich vor Jahren über die Arbeit meines Großvaters sprach. Daraufhin meldete sich Dr. Nordmann, der Neffe von Frau Mörike, der Weberin meines Großvaters. Weil mein Großvater sie damals nicht bezahlen konnte, bekam sie für ihre Arbeit Möbel von ihm. Ihr Neffe hatte deswegen noch einen Sekretär und einen Stuhl, der sehr ähnlich ist zu dem von e15. Auch ein kleines Sideboard und einen Tisch hatte er. Und er wollte sich davon trennen. Neben den Möbeln gab es auch eine Mappe, in der sich Teppich-Entwürfe meines Großvaters fanden. Von ihm mit Wasserfarben gemalt, Entwürfe, die Frau Mörike als Vorlage dienten. Das Tolle war, wir kannten seine Skizzen zwar in Schwarz-weiß aus frühen Publikationen, aber wir hatten nie ein Farbspektrum gesehen.

Wo finden sich die Arbeiten Ihres Großvaters heute?

Es gibt die Wohnung meiner Eltern, da ist ein Großteil. Dann bei den verschiedenen Familienangehörigen, die hier und da mal ein Möbel geerbt haben. Es gibt ein Haus bei Ravensburg, das er in den 1920ern für einen Textilfabrikanten gebaut hat, das allen Kriterien der Neuen Sachlichkeit entspricht.

Waren Sie mal drin?

Ja! Und es wurde auch für einen Katalog fotografiert. Die Nachkommen des Fabrikanten haben das Haus noch. Und es existiert auch noch das Interieur. Aber ansonsten ist im Zweiten Weltkrieg leider eine Bombe aufs Atelier von meinem Großvater in Stuttgart gefallen.

Weiß man als Kind, wenn man zwischen den besonderen Möbeln seines Großvaters aufwächst?

Meine Großmutter zog irgendwann bei uns ein und zwar mit diesen Möbeln, und es wurde uns gesagt, dass wir jetzt nicht unbedingt Fußball dagegen spielen sollten. Aber mit den Stühlen und den Tischen haben wir uns natürlich auch Höhlen und Tunnel gebaut. Aber ich habe nie meine Initialen reingeritzt. Vor ein paar Jahren wurden sie in einem Museum ausgestellt, und zwar wirklich die Möbel, auf denen wir als Kinder herum gerutscht sind, da waren dann plötzlich kleine Schildchen dran: "Bitte nicht berühren".

2020 haben Sie im Stuttgarter Stadtpalais eine Auswahl seiner Arbeiten gezeigt. Haben Sie vor, das Erbe Ihres Großvaters weiter zu betreuen?

Im Hinblick auf 2027 wird sicher wieder etwas gezeigt. Er war ja Mitglied des Deutschen Werkbundes und wohl auch Teil des Gremiums, das die Idee für die Weißenhofsiedlung entwickelt hat. Die Möbel, die mein Großvater für das Haus von Max Taut entworfen hat, gibt es zum Teil noch. Und auch die Edition mit e15 hält das Wissen um sein Werk am Leben.

Warum machen Sie das?

Manchmal braucht es die Enkel-Generation, die ein bisschen mehr Abstand hat. Und es ist eine Geschichte, die sich zu erzählen lohnt, die eine Relevanz hat. Bei den 1920er-Jahren in Stuttgart denkt man ja nicht gleich an einen Hub der Progressivität. Aber in der Kunsthochschule und der "Üecht-Gruppe", von der mein Großvater auch Teil war, wie Oskar Schlemmer, Willi Baumeister, die sie 1919 gründeten, haben sich Menschen gefunden. Auch wenn es eine kleine Stadt war, eher reaktionär, die Leute, die progressiv waren, waren verbunden und auch angebunden an eine internationale Bewegung. Mein Großvater war immer wieder bei Le Corbusier in den 1920er-Jahren und hat dann in den 1950ern seine Schriften "Modulor 1" und "Modulor 2" ins Deutsche übersetzt. Und ich konnte eine Verbindung empfinden, wie es ist, in dieser Stadt groß zu werden, in der sich plötzlich etwas Kulturelles entwickelt, das auch eine Strahlkraft über die Stadt hinaus hat.

Für Ihr Unplugged Album haben Sie mehrere Wandteppiche Richard Herres grafisch genutzt. Jetzt erschien Ihr neues Album "Alles Liebe", das Sie mit Ihrer Frau Joy Denalane geschrieben haben. Hat Ihr Großvater darin auch Einzug gehalten?

Sein Geist sicherlich. Ich glaube, dass ich geprägt bin durch seine typografische Arbeit und vom ihm das Verständnis dafür habe, was man als gute, ausgewogene Grafik empfindet.

Und irgendwie ist doch Gestaltung auch Rhythmus.

Genau. Und das Tolle am Musikmachen ist, dass man interdisziplinär arbeiten darf. Als Musiker denke ich auch in Cover-Motiven, in Bewegtbildern, in Typografie. Das hat mich immer interessiert, die Visualisierung von Musik.