Matthew Barney in Paris

Die verletzten Gladiatoren in der TV-Arena

Der US-Künstler Matthew Barney reißt mit Vorliebe Wunden in sein Material, um unter die Oberfläche der Dinge zu gelangen. In der Fondation Cartier in Paris setzt er sich nun mit Gewalt und Trauma im Sport auseinander

Mit Beginn des Sommers überwältigt der Pariser Garten mit seinem üppigen Grün. Dazwischen haben blühende Pflanzen kräftiges Rot, Gelb oder Blau gestreut. Doch grundsätzlich scheint sich Lothar Baumgarten (1944-2018), der Künstler, der dieses Theatrum Botanicum am Boulevard Raspail für die Fondation Cartier pour l’art contemporain gestaltet hat, einen grünen Dschungel vorgestellt zu haben

Die paradoxe, wilde und zugleich kultivierte Natur umgibt das Glashaus, das Pritzker-Preisträger Jean Nouvel für die Stiftung in der französischen Hauptstadt entworfen hat. An seiner Fassade zieht seit kurzem eine überdimensionale Digitaluhr, auf der die Zeit rückwärts läuft, die Blicke auf sich. Man meint, darin ein Symbol für das Ende der Fondation Cartier an diesem Ort zu sehen. Denn im Oktober feiert die 1984 von der Luxusmarke Cartier gegründete, unabhängige Stiftung ihr 40-jähriges Bestehen an ihrem neuen Standort: in unmittelbarer Nähe des Louvre. 

Noch wird der "Louvre des Antiquaires", ein Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, das einst Zentrum des Antiquitätenhandels war, ebenfalls nach Plänen von Jean Nouvel umgebaut. Nach dem Umzug im Jahr 2025 herrscht dann die zeitgenössische Kunst über die 6000 Quadratmeter 

Ausflug ins Football-Stadion

Tatsächlich ist die Uhr Teil der gerade eröffneten Ausstellung "Secondary" des US-amerikanischen Bildhauers, Filmemachers und Performancekünstlers Matthew Barney. Nachdem die Fünf-Kanal-Videoinstallation im Sommer 2023 in seinem Studio im New Yorker Stadtteil Queens Premiere feierte, wo sie auch entstand, ist sie nun zusammen mit neuen Arbeiten erstmals in Europa zu sehen. 

Schon die Uhr versetzt die Besucher am Boulevard Raspail in ein American-Football-Stadion. Flutlicht erhellt das Spielfeld aus Kunstrasen im Erdgeschoss. Er ist mit aufeinanderstoßenden Dreiecken und dem Logo von Matthew Barney bedruckt, einer Kreuzform aus einer Pille, die die Form eines Stadions symbolisiert und einem schmalen Querbalken als Zeichen der Begrenzung und des Widerstands. Die Filmbilder laufen auf dem aus Sportarenen bekannten, zentral von der Decke hängenden Jumbotron, während der über ein ausgefeiltes Surround-Sound-System ausgespielte Ton Barney und seinen Komponisten Jonathan Bepler einmal mehr als Meister atmosphärischer Nebengeräusche ausweist. 

Perfekt inszeniert, besitzt "Secondary" Pathos und Monumentalität – und das bei geradezu skandalös bescheidenen Mitteln. 30 Jahre nach der Ko-Produktion von Matthew Barneys erstem Spielfilm "Cremaster 4" (1994) durch die Fondation Cartier – eine der vielen kuratorischen Heldentaten von Hervé Chandès, dem langjährigen Leiter der Fondation – ist es vorbei mit der vaselinegetränkten, von prächtig kostümierten Satyrn, Motorradfahrern und Elfen bevölkerten Mythenwelt. "Secondary" dauert kurze 60 Minuten, so lange wie ein Footballspiel, und handelt ganz konkret von einem der schrecklichsten Unfälle in der Geschichte dieses Sports. 

Brutalität in Endlosschleife

1978 schlug der Defensive Back der Oakland Raiders, Jack Tatum, dem Wide Receiver der New England Patriots, Darryl Stingily, mit seinem Helm so hart auf den Nacken, dass der 26-Jährige vom Hals abwärts gelähmt war. Diesen Unfall, letztlich ein Akt der Brutalität, sah der junge Matthew Barney, damals selbst Quarterback in der Jugendliga, im Fernsehen, wo er in Endlosschleife gezeigt wurde.

Wenn der Künstler nun selbst in seinem Film immer wieder mit dem Kopf auf den Boden knallt, dann nicht als Darryl Stingily. Er sieht sich selbst in der Rolle eines anderes Spielers: Ken Stabler, dem Quarterback der Oakland Raiders. Nach dessen Tod wurde auch bei ihm ein chronisches Gehirntrauma infolge wiederkehrender Gehirnerschütterungen diagnostiziert. Diese nachwirkende Gewalt im Spiel ist das große Problem des American Football, dessen Spieler nicht mehr als Athleten, sondern als Gladiatoren wahrgenommen werden.  

Bei deren Kampf freilich sahen die Zuschauer nur für einen Moment, wie die Streitaxt den Schädel eines Menschen spaltete, danach war alles nur noch Erinnerung. Die gewaltsame Aktion im American Football aber wird technisch reproduziert, wieder und wieder aufgeführt und dabei unwillkürlich sakralisiert. Und wieder und wieder, das ist zentrales Thema von "Secondary", wird der Körper im Schmerz zelebriert. Ein Schmerz, der vom Gegner ausgehen mag, der aber schon beim Training beginnt, mit den schweren Gewichten an der Hantelstange. Der Schmerz setzt sich fort im eigentlichen Wettkampf, den David Thomson mit elf meist älteren Tänzern aus der Hip-Hop- und Breakdance-Szene als abstrakte, stilisierte Bewegungsabläufe choreografiert hat. Er explodiert im Moment des Zusammenpralls und wird in seinen tänzerischen Wiederholungen in Zeitlupe zum ultimativen Spektakel der Zerstörung. 

Der Konflikt des Materials

Doch dann waten die Athleten unvermittelt durch den Dreck der Kanalisation, was metaphorisch gelesen werden kann, aber seinen Grund darin hat, dass Barney beim Graben eines Lochs in seinem Studio auf die schönen Keramikrohre des New Yorker Abwassersystems stieß. Und damit auf ein neues Material, das er testen und stressen konnte - und dessen von Plastik und Metall abweichende Härte wie Verletzlichkeit ihn reizte. 

Aus Tonkeramik besteht daher auch die Skulptur "Power Rack with Landmine and Restraint" (2024), die einsam im rechten Ausstellungsraum steht. Das Gestell nimmt die verschiedenen Gewichte auf, die an die Hantelstange befestigt werden können. Letztere liegt mit dem einen Griff unten an der Struktur und mit dem anderen auf der am Boden liegenden Halterung, der Landmine, auf. Das elastische Seil ist ebenfalls aus schönem, rot gebranntem Ton. 

Der Purismus der Installation setzt sich im Untergeschoss fort, wo Barney auf kleinen Fernsehmonitoren in den vier Ecken des Raums seine 1988 und 1989 entstandenen, schwarz-weißen und tonlosen Kuzvideos der Serie "Drawing Restraint" zeigt. Um dem Titel entsprechend unter größtem Widerstand zu zeichnen, springt der Künstler beispielsweise auf einem Trampolin bis zur Erschöpfung an die Decke, um dort ein Bild zu erschaffen. Trotz der eher humorlosen Strenge denkt man plötzlich an Karl Valentin und seinen Kampf mit den Tücken des Alltags. Beide gleichen sich im Drang, ihr Material bis zum Äußersten zu strapazieren; sei es die Sprache oder die Gestik bei Valentin, sei es die Kreide, der Ton oder der Körper bei Barney. 

Fünf Aufführungsorte

Beide reißen sie Wunden in ihr Material, verletzen es und womöglich sich selbst. Beide suchen den Konflikt mit dem Stoff und den Konflikt der Materie untereinander. Denn nur so kommt es zu der großartigen, subtilen Komik, die Valentin meint; oder zu dem ganz Neuen in der Kunst, wie Barney es sieht. Obwohl er von der Maßlosigkeit der Anstrengung und des Durchsetzungswillens fasziniert ist, erkennt er schon in seinen frühen Arbeiten den Hochmut vor dem Fall. 

Dass Raphael Xavier, der den brutalen Verteidiger der Oakland Raiders Jack Tatum spielt, auch Protagonist von "Drawing Restraint 27" ist, hat also durchaus seinen Grund. Das Video wurde eine Woche vor Ausstellungseröffnung in Paris aufgenommen und zeigt Xavier, der an einem starken Widerstandsband hängt. Er versucht, mit schweren Gewichten aus ungebranntem Ton eine Linie entlang der Wände im Untergeschoss der Fondation Cartier zu ziehen. Einen gewissen Widerstand hat Barney auch in die Rezeption von "Secondary" eingebaut. Denn die Ausstellung wird weltweit gezeigt. In Paris ist sie zusätzlich in der Galerie Max Hetzler zu sehen, wo Barney das schon auf dem Kunstrasen erkennbare abstrakte Motive des Zusammenpralls als Malerei auf Aluminium noch einmal variiert und dramatisiert. Dazu stellt er Keramik- und Plastikskulpturen von Hanteln und anderen Trainingsgeräten aus. 

Ähnlich kann man sich die Schau in London bei Sadie Coles, bei in der Gladstone Gallery in New York und in Los Angeles bei Regen Projects vorstellen. Wenigstens noch einen Rest Gigantomanie bei Matthew Barney zu entdecken, beruhigt. Zumal das Ensemble der Aufführungsorte doch nur die Snobs anspricht, die dann untereinander checken, ob sie auch brav alle Stationen mitgemacht haben.