Marcin Dudek über die EM

"Fußball war der Sport der Arbeiterklasse, der Kapitalismus hat ihn gekapert"

Im Dortmunder U zeigt Marcin Dudek seinen Blick auf den Fußball. Der polnische Künstler war einst Teil der Krakauer Hooligan-Szene. Wie fällt seine EM-Bilanz aus? Ein Gespräch über Nationalstolz, Kommerz und den Geist des Spiels

 

Marcin Dudek, Kunst und Fußball sind für Sie nicht erst aufgrund der Europameisterschaft ein Thema, richtig?

Die Beschäftigung mit Fußball und der Hooligan-Szene ergibt sich aus meiner Biografie. Ich bin in den 1990er-Jahren in einer Siedlung am Stadtrand von Krakau aufgewachsen. Hooligan zu sein wurde meine Identität und war die Antwort auf eine brutale soziale Wirklichkeit. Es gab keine anderen Angebote, schon gar keine Kunst. Als ein Freund starb und ich eine Bewährungsstrafe erhielt, habe ich angefangen, diese Erfahrungen zu reflektieren. Jetzt ist die Kunst mein Verein, und meine Arbeit ist immer auch ein Stück Erinnerungsarbeit.

Sie nutzen Objekte der Szene oder aus dem Stadion für Ihre Collagen und Installationen. Wie funktionieren diese Elemente im Kunstkontext?

Ich arbeite mit den Zeichen und Ritualen der Szene, aber ich mache keine Hooligan-Art. Mich interessieren die Strukturen dahinter: Wie organisieren sich Menschen? Wie finden sie zueinander? Das Zusammenkommen, das Aufgehen in der Gruppe, das ist ja das Schöne. Dann gibt es die Eskalation, die Gewalt. Und dazwischen ist dieser Moment, wo man nicht weiß, was passiert. Wo alles möglich ist. Nimm zum Beispiel die Bomberjacke mit dem orangefarbenen Innenfutter. Eine Militärjacke, eine Uniform, und schon an sich aufgeladen mit Bedeutung. Vor Aktionen wird die Jacke gewendet, das Innere kommt nach Außen. Die Menge färbt sich dadurch orange, und das geht dann wie eine Welle durch das Stadion - das ist ein faszinierendes Bild. In meinen Performances gebe ich dem eine neue, ästhetische Dimension. Der orangefarbene Rauch signalisiert: Hier passiert etwas. Er schafft einen Moment der Desorientierung, aber er bietet auch Schutz - es geht darum, sich zu verstecken und sich zu zeigen. Diese Ambivalenz macht es spannend.

Auch die Stimmung rund um die EM ist ambivalent: Nationalstolz und extreme politische Positionen wie der Wolfsgruß eines türkischer Spielers und von Fans treffen auf die Idee eines offenen und vielfältigen Europas. Wie erleben Sie das?

Wir sind in einer Phase der Unsicherheit, der Transition, und Fußball ist identitätsstiftend. Wo stehe ich? Wer bin ich? Es ist auch ein Spiel, vielleicht wie beim Karneval: Bist du die Ente oder das Krokodil? Der Wettbewerb ist erstmal positiv, denn er ist ein Moment des Zusammenkommens und der Gemeinschaft. Das kann ein gutes Ventil sein. Und es kann missbraucht werden. Wenn Politik auf der Tribüne erscheint, ist es wie vor 2000 Jahren in Rom. Die Herrschenden zeigen Stärke. Erdoğan oder auch Viktor Orbán sind sich dieser Mechanik des Fußballs sehr bewusst. Erdoğan hat selbst Fußball gespielt, Orbán war Gründer eines Fußballvereins in seiner Heimatstadt Felcsút. Alle aktuellen Konflikte unserer Gesellschaft zeigen sich immer sofort auch auf dem Platz - aber die Prozesse sind dort auch ein Stück unter Kontrolle. 

Ist das auch eine Chance?

Kommt darauf an. Fußball war der Sport der Arbeiterklasse, der Kapitalismus hat ihn gekapert. Manche gehen so weit zu sagen es gehe darum, die Arbeiter gegeneinander aufzubringen und abzulenken von den eigentlichen Problemen. Brot und Spiele eben - aber auch das hat seinen Kipp-Moment. Ich bin seit acht Jahren nicht mehr bei großen Spielen gewesen, es gibt längst eine Überdosis. Die eigentliche Idee des Spiels überlebt in kleinen Städten und Dörfern: die Kirche, die Schule, der Fußballplatz. Das ist ein Muster. Und es gibt Bestrebungen, sich das Spiel zurückzuholen, die mich optimistisch machen: Da sind die Ultra-Proteste, Initiativen queerer Menschen, ein sich änderndes Verständnis von Männlichkeit. Alles ist in Bewegung, und da wo heute die türkische Fahne aus dem Fenster hängt, hängt vielleicht morgen eine deutsche Fahne. Ich weiß nicht, ob ein Identifikationsangebot wie die Nation irgendwann ausgedient hat - aber Identität ist nichts Feststehendes, sie ist wandelbar. Und ich bin sehr glücklich, die Wahl zu haben.