In der rekonstruierten Altstadt von Schardscha mischen sich die Ausstellungspavillons unter Restaurants, einen öffentlichen Garten und eine zentrale Moschee. Inmitten dieses kleinen Labyrinths aus Palmen und glatten Steinmauern wirkt das Schaufenster mit Modellflugzeug, Designer-Stühlen und verschiedene Zeitzonen anzeigenden Uhren tatsächlich wie ein echtes Reisebüro. Erst beim Betreten des Gebäudes stellt sich heraus, dass es sich um eine Installation von Khalil Rabah handelt, der ein repräsentatives Umfeld für die fiktive Fluggesellschaft United States of Palestine Airlines geschaffen hat. Der palästinensische Künstler betreibt mit seinen multimedialen Installationen spekulative Geschichtsschreibung, die Prozesse der Musealisierung und nationalen Identitätsbildung hinterfragt.
Mit dem Palestinian Museum of Natural History and Humankind verwaltet Rabah seit den 1990er-Jahren ein stetig wachsendes Archiv an Artefakten und Kunstwerken, welches das Herzstück seiner Ausstellung in Schardscha bildet (bis 4. Juli). In der Naturkunde-Abteilung zeichnet Rabah die Reise von fünf Olivenbäumen nach, die der Künstler 1995 als Geschenk an die Vereinten Nationen von Ramallah nach Genf schickte und die als kontroverse, wenngleich subtile Repräsentation Palästinas wenig später wieder aus dem Garten der UN verschwanden. Die medial häufig als Terrorismus-Korridore inszenierten Untergrund-Tunnel entlang des Gazastreifens präsentiert er als geologischen Querschnitt. Sedimentäre Schichten werden von einem Gang durchbrochen, die 2008 unter anderem dafür genutzt wurden, Tiere in den öffentlichen Zoo Gazas zu schmuggeln – für Rabah ein Zeugnis der Sehnsucht nach Normalität inmitten eines Dekaden alten Konflikts.
Die anthropologische Abteilung versammelt eine Reihe von Ölgemälden, in denen die soft architecture einer brasilianischen Favela aus über 7000 Geflüchteten und migrantischen Arbeiter und Arbeiterinnen dokumentiert. Rabah hat die Personen aus den Gemälden ausgeschnitten, sodass schemenhafte Löcher den Blick auf die Holzbalken der Leinwand freigeben. Der Fokus liegt stattdessen auf den notdürftigen Unterkünften aus Rohren und Plastikplanen – und auf das Schild am Eingang, das auf portugiesisch willkommen heißt in "Neu-Palästina". Statt heroischer Identitäts-Sagen erzählt Rabah in fragmentierte Anekdoten von einer Nation auf unstetigem Grund, deren Mitglieder sich zu einem Großteil auf andere Staaten verteilen.
Postkolonialismus - und jetzt?
Khalil Rabahs Ausstellung in der Sharjah Art Foundation war Teil des March Meetings, eines mehrere Ausstellungen und eine Konferenz umfassenden Programms, das zweijährlich im Wechsel mit der Sharjah Biennal stattfindet. Die Kunstinstitution in Dubais Nachbar-Emirat ist maßgeblich mit dafür verantwortlich, dass sich Schardscha in den vergangenen Jahren zu einem Zentrum für Kunst aus der den Nahen Osten, Nordafrika und Südasien umfassenden MENASA-Region entwickelt hat. Ebenso wie die letzte Ausgabe und die für 2023 geplante Biennale wurde auch die diesjährige Programmreihe von dem 2019 verstorbenen Kurator und Theoretiker Okwui Enwezor mitkonzipiert. Enwezor entwickelte in seiner politischen Praxis den Begriff der postkolonialen Konstellation als ein vom Kolonialismus geformtes Kapital- und Machtsystem, in welchem – entgegen aufklärerischer Ideale der weltentbundenen Kreativität – auch die zeitgenössische Kunstproduktion zu verorten ist.
Ausgehend von jenem Konzept setzte sich das March Meeting 2022 mit den "Afterlives of the Postcolonial" auseinander. Unter den Ausstellungen ist die erste Retrospektive des Fotografen Gerald Annan-Forson (bis 7. Juli), der von 1979 bis 1985 die ghanaische Revolution und Ghanas erste Jahre der Unabhängigkeit dokumentierte, und die erste institutionelle Einzelausstellung des libanesischen Malers Aref El Rayess (bis 7. August). Mit dabei ist auch der Forensic-Architecture-Kollaborateur Lawrence Abu Hamdan, der mit großer formeller Eleganz und investigativem Geschick politische Sachverhalte an der Grenze des Sichtbaren darstellt (bis 4. Juli).
Die Vorträge und Paneldiskussionen der mehrtägigen Konferenz, die man auf der Website der Art Foundation nachträglich anschauen kann, verhandelten aktuelle Themenschwerpunkte der Postcolonial Studies von Migrationsströmen über Siedlerkolonialismus und Restitution bis hin zu neuen Formen des Extraktivimus wie dem Land Grabbing. In ihrer einführenden Keynote stellte die Aktivistin und Mitbegründerin des Studienfelds Gayatri Chakravorty Spivak den Begriff des Postkolonialismus in Frage. Mit Blick auf Russlands propagandistischen Missbrauch antikolonialer Rhetorik zur Rechtfertigung des Ukrainekriegs und die wiederholte Behauptung dekolonialer Absichten der Narendra-Modi-Regierung in ihrem Heimatland Indien warnte sie vor einer Instrumentalisierung des Begriffs. In Terminologien wollte sie sich dabei jedoch nicht verlieren: "Ihr wollt den Ausdruck behalten? Behaltet ihn! Ich bin nicht hier, um Handel mit Begriffen zu treiben."
Einen ähnlich pragmatischen Umgang mit Definitionsfragen fand auch die Bürgerrechtlerin Angela Davis. Im Gespräch über die notwendige Wechselseitigkeit von Feminismus und Abolitionismus begegnete sie dem Missbrauch des Freiheitsbegriff, der einem aktuell vor allem im Kontext von Pandemie-Leugnung begegnet, mit einer simplen Regel: Freiheit sollte stets kollektiver Natur sein. Neben namenhaften Wissenschaftlerinnen und öffentlichen Intellektuellen wie Spivak und Davis kamen in den Paneldiskussionen auch Künstler und Künstlerinnen zu Wort. Mit dabei waren unter anderem Rachid Koraïchi, der in Tunesien Friedhöfe für Opfer der mediterranen Flüchtlingskrise errichtet hat, und Carolina Caycedo, die sich mit der Verdrängung indigener lateinamerikanischer Gemeinschaften durch den Bau US-amerikanischer Staudämme auseinandersetzt. Ihre und viele weitere der im Rahmen der Konferenz vorgestellten Kunstwerke machten deutlich, welche Rolle eine schöpferische Praxis innerhalb der postkolonialen Konstellation aussehen kann: komplexen Themen von Migration bis hin zur neoliberale Energiewende als Geschichten auf menschlicher Skala nachspüren und somit den Blick auf Perspektiven eröffnen, die im Diskurs über größere Zusammenhänge meist unsichtbar bleiben.
Blick in die abstrakten Schiffscontainer
Einen vergleichbaren Ansatz verfolgt auch das 2007 in Mumbai gegründete Kollektiv CAMP. In ihrer Einzelausstellung "Passages through Passages" (bis 4. Juli) untersucht die Gruppe die Hyperobjekte des globalen Handels und der Überwachung des öffentlichen Raums. Dabei wandeln sie entlang der kybernetischen und logistischen Korridore, die im Dienste einer suggerierten Unmittelbarkeit und Omnipräsenz meist im Verborgenen bleiben. CAMP richtet das Objektiv in einer Videoarbeit auf Mitarbeitende in CCTV-Überwachungszentren zurück und zeichnen in einer neuen Multichannel-Installation ein Porträt Mumbais in Überwachungskamera-Aufnahmen.
Am faszinierendsten ist jedoch der Blick der Gruppe auf die zahlreichen arbeitsintensiven Schritte, denen die reibungslose Ankunft von Waren in unseren Geschäften und auf unseren Fußmatten zugrunde liegt. Eine Zweikanal-Videoinstallation zeigt chinesische Arbeiter in der Hafenstadt Guangzhou in ihrem Arbeitsalltag. Auf einem Bildschirm sind die routinierten Gesten zu sehen, mit denen die Arbeiter den Kran bedienen, auf dem anderen die Container, die sie sorgfältig aufeinander stapeln. Die Größenordnung ist derart der Relation zum menschlichen Körper enthoben, dass es sich auch um Bilder aus einem Greifautomaten handeln könnte. Die Container, so erklärt es Allan Sekula in seinem Dokumentarfilm "Forgotten Space", haben den Hafen zu einem Ort der Abstraktion gemacht. In der indischen Stadt Kochi brechen CAMP die homogenisierende Hülle des Containers, indem sie die in ihm verborgenen Waren im Moment der Be- und Entladung zeigen: Schuhkartons, Kokospellets, lange Bahnen dicker Spiegelfolie und staubiger Metallschrott, der mit Hilfe von Seilen auf einer Müllhalde abgeladen wird.
Aus Indien zurück nach Schardscha geht es mit "From Gulf to Gulf". Der in Kollaboration mit einer Gruppe indischer Seefahrer entstandene Film begleitet über vier Jahre hinweg den Alltag auf See zwischen den Häfen des Kachchh-Region und den arabischen Emiraten. Harte körperliche Arbeit und langgezogene Nachmittage des Ausharrens, gefilmt auf Handys und HD-Kameras, werden begleitet von einem seitens der Seefahrer zusammengestellten Soundtrack aus religiösen Gesängen und Bollywood-Songs. Bei der Premiere der Arbeit auf der elften Sharjah Biennal 2013 wurde die Arbeit am Hafen projiziert, sodass die Seefahrer von ihren Containerschiffen aus zuschauen konnten. Aktuell ist sie innerhalb eines der zahlreichen großzügig klimatisierten, elegant rekonstruierten und verhalten besuchten Art-Foundation-Ausstellungsgebäudes zu sehen. Die räumlichen und ideologischen Zugangsbarrieren des Kunstfelds und die oft ebenfalls abstrahierten und verborgenen Kapitalströme, die ihm zugrunde liegen, sind wohl nach wie vor eine der größten Herausforderungen für die künstlerische Praxis innerhalb der postkolonialen Konstellation.