"Kakteenlandschaft – ein Sommer". So lautet der Titel des Bildes, das seit kurzem an meiner Wohnzimmerwand hängt. Das Hochformat zeigt - nicht sehr überraschend - viele bunte Exemplare dieser Pflanzengattung, links erstreckt sich ein besonders lang gewachsener Kaktus Euphorbia. Er ragt in den dramatisch gefärbten Abendhimmel, wo die riesige Sonne gerade im Begriff ist, hinter den Bergen zu verschwinden. Das Kolorit ist knallig: Pink, Rosa, Rot, Orange, Gelb, Lachs, sattes Grün in verschiedenen Nuancen, unterschiedliche Blautöne.
Viele Stunden saß ich an diesem Bild, habe gewissenhaft die zahlreichen Schattierungen aufgetragen, dabei größte Sorgfalt aufgebracht, damit an keiner Stelle die Leinwand durchscheint oder die einzelnen Flächen ausfransen. Ich habe die Farbe trocknen lassen und, wo es nötig war, nochmals nachgemalt. Dann habe ich die Leinwand auf einen Keilrahmen aufgezogen, einen geeigneten Platz in der Wohnung gesucht und das Werk an die Wand gebracht. Zum Schluss bekam es einen Titel. "Kakteenlandschaft" bezeichnet das Offensichtliche, "ein Sommer" spielt auf die Entstehungszeit an, auf die vielen Abendstunden, die ich investiert habe.
Eigentlich heißt das Bild allerdings "Malen nach Zahlen – Bunte Wüste". Ich habe es bei einem Onlineanbieter für 19,95 Euro gekauft (reduziert von ursprünglich 79,95 Euro), nachdem mir die Werbeanzeige in meinen Instagram-Feed gespült wurde. Schon bald nachdem das Kit ausgepackt auf meinem Tisch lag und ich anfing, die mitgelieferten Pinsel (zwei verschiedene Größen) in die winzigen Tiegel (22 Stück) zu tunken, die genau portionierte Farbe auf den nummerierten Flächen (sehr viele) aufzutragen, war ich im Malen-nach-Zahlen-Wahn.
Kein Risiko des Scheiterns
Bis weit nach meiner normalen Zubettgehzeit saß ich gekrümmt am Tisch und pinselte, während draußen Europameisterschaften und Olympiaden ausgetragen wurden. Unberührt von allem nahm "mein Werk" seine vorfabrizierte Gestalt an, wobei sich ein unerwartetes Gefühl einstellte: Die Beschäftigung mit diesem Produkt der Massenkultur, die nichts von mir verlangte, außer meiner Zeit (immerhin!) und der Fähigkeit, unterschiedlich große Flächen ordentlich auszumalen (einige davon mikroskopisch klein), fühlte sich an wie eine Rebellion. Ein Aufstand gegen meinen durch kleine Zeitfenster getakteten Alltag, der eigentlich keine Zeit lässt für etwas, das nicht nützlich, zielführend oder produktiv ist.
So vieles, das in dieser Zeit hätte erledigt werden können (und müssen) ... Stattdessen verstrichen die Stunden, ohne dass ich etwas Neues lernte, keine Facette meines Selbst wurde verbessert, kein Aspekt meines Alltags perfektioniert. Die Zeit beim Malen verwandelte sich in ein Refugium der Anspruchslosigkeit. Mein gebeugter Körper und die vor mir liegende Leinwand verschmolzen zu einer Heterotypie, einem Zwischenort, an dem Pflichten und (Selbst-)Optimierung keine Rolle spielten. Hinterfragen war hier unerwünscht, eigenes Denken nicht nötig. Und das Beste: Es bestand kein Risiko des Scheiterns.
Damit schließt Malen nach Zahlen alles aus, was dem künstlerischen Prozess eigen ist und reduziert den kreativen Prozess auf das Moment des Hinzufügens von Farbe. So entsteht etwas: ein Bild, das vorgibt ein Kunstwerk zu sein, und dabei der Inbegriff des nicht-Künstlerischen ist. Genau hier liegt der Grund für seinen Erfolg, den Malen nach Zahlen beziehungsweise Paint by Number in den 1950er Jahren verzeichnete. Doch hierzu später mehr.
Dem Künstler entglitten die Gesichtszüge
Meine "Kakteenlandschaft" hat keinen doppelten Boden, sie setzt keine Wahrheit ins Werk, und selbst die ästhetische Lust, die sie mir bereitet, ist vermutlich fragwürdig. Als "Kunstwerk" kann es nicht ohne die Susan Sontag’schen Anführungsstriche existieren, und wenngleich ein Malen-nach-Zahlen-Bild nicht unbedingt als camp zu bezeichnen ist, so entlockte es mir doch durchaus einen genussvollen, campy Umgang damit: Es bereitete mir eine diebische Freude, mit der "Arbeit" an meinem "Werk" in Kunstkreisen hausieren zu gehen. Während einer Vernissage erzählte ich einem Künstler davon: Er verlor zuerst die Kontrolle über seine Gesichtszüge und dann sehr schnell das Interesse an einer Weiterführung des Gesprächs.
Was er vielleicht nicht wusste: Malen nach Zahlen, beziehungsweise die US-amerikanische Version davon, hatte durchaus seine Auftritte in der Welt der Kunst. In den frühen 1960er-Jahren beginnt Andy Warhol, sich mit den Zeichen und Symbolen der Nachkriegsgesellschaft auseinanderzusetzen. Er greift das Paint-by-Number-Phänomen auf, das zu diesem Zeitpunkt schon rund zehn Jahre besteht, und transformiert es zu einem Kommentar auf die damals vorherrschende Kunstrichtung des Abstrakten Expressionismus sowie auf die Massenkultur, die sich unaufhaltsam in alle Bereiche der Gesellschaft ausbreitet.
Seine fünfteilige Serie "Do It Yourself" entsteht 1962 - zur gleichen Zeit wie seine "Campbell‘s Soup Cans" – und markiert seine Entwicklung zu einem "fully formed Pop artist", wie es Irit Krygier 2002 in einer Ausstellungsrezension für das "Artnet"-Magazin beschreibt. Nach Vollendung der Serie schließt Warhol das Kapitel "Malerei von Hand" und beginnt seine Arbeit mit Siebdruck und fotografischen Vorlagen. Die Aneignung von Paint by Number und die Arbeit an der Serie wird gewissermaßen zum Übergangsritus, an dessen Ende Warhols Pop-Art-Universum steht, das so viel Aufschluss über die US-amerikanische (Massen-)Kultur des 20. Jahrhunderts gibt.
Das domestizierte Kunsterlebnis
Warhol verwendete für "Do It Yourself" Vorlagen aus einem Pencil-by-Number-Set der Marke Venus Paradise, die er zunächst auf Papier und schließlich auf Leinwand übertrug. Die Zahlen sind schwarze Abreibeziffern der Marke Prestype. Nur eines der vier Motive ist fertig ausgemalt, allerdings ist das Prinzip hier auf den Kopf gestellt: In "Seascape" sind die Zahlen nicht übermalt, sondern erst nach dem Farbauftrag hinzugefügt; das Prinzip der Illusion, das Werk sei "frei" entstanden, wird hierdurch betont. Die anderen vier Motive – "Flowers", "Sailboats", "Landscape" und "Violin" – sind unvollständig koloriert, die umrandeten weiß geblieben Flächen mitsamt ihren Nummern verdeutlichen den Entstehungsprozess dieser Werke und betonen das Vorgefertigte, Reproduzierbare.
Der Bezug zur Welt des Alltäglichen und Häuslichen sowie das Spiel mit der Imitation des künstlerischen Prozesses wird bei Warhol zu einem pointierten Kommentar auf den zu dieser Zeit sehr einflussreichen und stark männlich geprägten Abstrakten Expressionismus. Während sich die Vertreter des Action Paintings in der Cedar Tavern in Greenwich Village gegenseitig die Köpfe einschlagen, wie Warhol es in "POPism: the Warhol Sixties" (1980) beschreibt, und hernach im Atelier das gewöhnliche Leben durch das Spirituelle und Mythische zu transzendieren suchen, wendet Warhol sich dem domestizierten Kunsterlebnis zu.
Mehr als 20 Jahre später, 1987, schafft der Künstler Paul Bridgewater fünf abstrakte Paint-by-Number-Sets, die jeweils aus einer Leinwand, einer Anleitung, vorgemischten Farben sowie zwei Pinseln aus Haaren des Künstlers bestehen. Eines der Sets wurde von Warhol gekauft.
Symbol der geistlosen Konformität
Ein weiteres Eckdatum in der Kunst-Karriere des Malen nach Zahlen-Phänomens: 1992 findet in der Bridgewater/Lustberg Gallery die Ausstellung "1952-1992, 40 Years of Paint-by-Number Painting" statt, in der die Sammlung des Drehbuchautors Michael O’Donoghue präsentiert wird. Wie sehr dieses Produkt ursprünglich eine US-amerikanisches Kulturtechnik ist, verdeutlichte die Ausstellung "Paint by Number: Accounting for Taste in the 1950s", die 2001/2002 im National Museum of American History zu sehen war.
Die Präsentation und der begleitende Katalog erzählen die Erfolgsgeschichte der Zahlenmalerei, die es nicht nur in Warhols Atelier schaffte, sondern auch ins Weiße Haus. Hier installierte Thomas Edgar Stephens, ein Sekretär Eisenhowers (nicht zu verwechseln mit Thomas Edgar Stephens, dem Porträtisten Eisenhowers) die "Stephens Collection" mit zahlreichen Paint-by-Number-Gemälden, die von Kabintettsekretärinnen und Besucherinnen des Oval Offices gefertigt worden waren.
Ein Kapitel der Ausstellung widmete sich der Entstehung des Phänomens in den USA der Nachkriegszeit: Während es schon in den 1920er-Jahren mit Buchstaben versehene Mal-Vorlagen für Kinder gab, wurden die Kits für Erwachsene erst in den späten 1940er-Jahren entwickelt. Anfang der 1950er-Jahre traten sie ihren endgültigen Siegeszug an, in dessen Folge die verschiedenen Anbieter Umsätze in Millionenhöhe (80 Millionen Dollar bei einem Stückpreis von 2,50 Dollar) einstrichen und Kultur-Kritiker sich die Haare rauften. Paint by Number wurde zur beliebten Freizeitbeschäftigung für die einen und zum Symbol der geistlosen Konformität für die anderen: Es war Kassenschlager und "Metapher für die Kommerzialisierung und Technisierung der Kultur", wie es William L. Bird, Jr. im Ausstellungskatalog "Paint by Number" beschreibt.
Ein Symbol für Wohlstand und Freizeit
In der Firma Palmer Show Card Paint Company steht der 2019 verstorbene Künstler Dan Robbins für den Erfolg der Erfindung. Während sein erstes Bild, das vom Kubismus inspirierte "Abstract No. One" noch floppte, fanden die folgenden erzählerischen und realistischeren Motive wie "The Bullfighter", "Mt. Mattterhorn" und insbesondere "The Last Supper" reißenden Absatz bei der New York Toy Fair 1951. Zwei Jahre später, 1953, arbeiteten bereits 35 Künstlerinnen und Künstler an der Produktion der Kits des Labels Craft Master, um der hohen Nachfrage beizukommen.
Der Wohlstand der Nachkriegszeit und das neue Maß an Freizeit sind wesentliche Faktoren dieser Erfolgsgeschichte: Die auf Konsum basierende Massenkultur bricht sich Bahn, die neu gewonnene arbeitsfreie Zeit will unterhaltend und ohne große Anstrengung verbracht werden. Indes werden Hobbys zum neuen Indikator der gesellschaftlichen Klassen, die sich bis dato anhand der Marker Bildung, Reichtum und Erziehung differenzieren ließen.
Das Phänomen bleibt nicht auf die USA beschränkt, sondern expandiert auch auf den europäischen Markt. In Deutschland wird Malen nach Zahlen ab Mitte der 1970er-Jahre zuerst von Ravensburger vertrieben. Die Designerin Ingrid Büchler arbeitete dort von 1971 bis 1975 als Redakteurin und Produktmanagerin und war für das damals neue Segment verantwortlich. "Es musste viel Überzeugungsarbeit geleistet werden, auch innerhalb der Firma", erzählt die heute 85-Jährige am Telefon. "Denn es wurde großen Wert darauf gelegt, dass ein Produkt einen lehrreichen Sinn hat."
Motive aus der Kunstgeschichte
Nach erfolgreicher Werbung stieß Ingrid Büchler auf eine weitere Herausforderung: "Das größte Problem war dann, dass niemand die Bilder parzellieren konnte." Dies ist jedoch nötig, um das Bild in einzelne, unterschiedlich große Felder einzuteilen. Also reiste Büchler durch Deutschland, traf sich mit verschiedenen Künstlern und wurde schließlich bei ihrem Kollegen, dem Grafikdesigner Charly Lehnert fündig.
1975 wurde Malen nach Zahlen erstmals auf der Nürnberger Spielwarenmesse vorgestellt, zunächst noch unter dem Titel Malen für alle. Zur Auswahl standen zwölf Motive in zwei verschiedenen Größen: "Wiesenblumen", "Stilleben Kürbis", "Windmühle", "Dorfstraße Garmisch", "Jugoslawische Küste", "Sonnenuntergang", "Stilleben Wein", "Pfau", "Costa Brava", "Das Modell", "Windjammer" und "Pferde auf der Weide".
Schon ein Jahr später wurde das Programm auf 30 Motive in vier Größen erweitert. 1982 kamen mit Bildern von Carl Spitzweg auch Klassiker aus der Kunstgeschichte hinzu, die in den folgenden Jahren um Bilder von Rembrandt, Bruegel, Kandinsky, Van Gogh, Klimt und weiteren Künstlern erweitert wurden.
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Im Ravensburger-Archiv befinden sich Zuschriften von Kundinnen und Kunden, die sich bestimmte Motive wie das Holstentor in Lübeck oder Figuren aus Film- und Fernsehen wünschen, schreibt Lara Hofmann, die bei der Ravensburger AG das Archiv leitet, per Mail. 1998 gab es eine "Music Collection" mit Stars wie Blümchen, Scooter, *NSYNC und den Backstreet Boys. Seit dem 1. September wird die Marke unter dem Namen CreArt weitergeführt. Die Abkürzung steht für Creation of Art, ein Titel der stärker auf den künstlerischen Aspekt anspielt. Im Ravensburger-Newsroom steht eine Pressemitteilung vom 15. August. Dort steht: "Oft fühlt sich der Alltag an wie ein endloser Marathonlauf. Vor allem Frauen reiben sich häufig auf zwischen Job und Partnerschaft, Haushalt und Familie. Umso wichtiger ist es, sich immer wieder Auszeiten zu gönnen. Regelmäßige Me-Time zu festgelegten Zeiten hilft dabei, beispielsweise mit CreArt - Malen nach Zahlen (…)."
Ich fühle mich beim Lesen seltsam ertappt, aber auch bestätigt. Mein Essay über Malen nach Zahlen - doch nur ein Ravensburger-Werbetext mit 12.000 Zeichen?