Film über Luis Buñuel

Der Magier der rasiermesserscharfen Bilder

Die Werke von Luis Buñuel verleiten zu der These, dass die Ideen des Surrealismus am besten im Film funktionieren. Nun kommt ein neues Porträt über den Ausnahmeregisseur in die Kinos. Es weckt die Lust, sein Bildarchipel neu zu entdecken

Mondnacht. Da möchte man romantisch glotzen. Ein Mann und eine Frau, die Liebe und der Tod. Eine dunkle Wolke durchzieht die Mondscheibe, ein Rasiermesser zerschneidet das Auge einer Frau. Nach 16 Minuten voller Ameisen, die aus einer löcherigen Hand kriechen und Tierkadavern in Konzertflügeln kündigt ein letzter absurder Zwischentitel den Frühling an: Es folgt das Bild zweier bis zur Brust im Sand vergrabener Menschenleichen. 

Samuel Becketts "Glückliche Tage" kommt einem in den Sinn, aber das Bühnenstück wurde erst 30 Jahre später geschrieben. 1929 zeigten Luis Buñuel und Salvador Dalí ihren Gemeinschaftsfilm "Ein andalusischer Hund" in Paris, einen poetischen, brutalen, irrationalen Affront und doch einen Film, der in zwingender Alptraumlogik von Bild zu Bild, von Szene zu Szene gleitet. Ein glanzvoll giftiges Delirium.

Buñuels Gesamtwerk, das mit dem "andalusischen Hund" beginnt und mit "Dieses obskure Objekt der Begierde" 1977 endet, reizt zu einer These: Dass "das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch" – die Phrase des Comte de Lautréamont aus den "Gesängen des Maldoror" gilt als Leitmotiv des Surrealismus – am allerbesten im Film funktioniert. Zwei oder mehrere an sich realistische Aufnahmen werden im Zusammenschnitt zu einer unheimlichen Akkordfolge. Das Monströse am filmischen Surrealismus ist die alltägliche, mitunter gar banale Provenienz ihrer Elemente.

Faible für die Slapstick-Komödie

Javier Espada, der Regisseur des neuen Films "Buñuel: Filmemacher des Surrealismus", der ab sofort in den Kinos läuft, kam im spanischen Dorf Calanda zur Welt, wenige Straßen vom Geburtshaus des großen Filmerzählers entfernt. 16 Jahre lang leitete Espada das dortige Buñuel-Zentrum, seine biografischen und filmästhetischen Studien münden nun in einem Dokumentarfilm, der die biografischen Wurzeln, die Zeichensprache und die Entwicklung eines weltbekannten Regisseurs untersucht. Prägend für Buñuel (1900-1983) waren die Klassenunterschiede am Ort seiner Kindheit, die jesuitische Erziehung, die er genoss, die Freundschaft zu Federico García Lorca und Dalí sowie die Faszination des jungen Literatur- und Philosophiestudenten für die Psychoanalyse Sigmund Freuds.

Nach dem Erfolg des "Chien Andalou" wurde Buñuel in die Gruppe der Surrealisten um André Breton aufgenommen. 1930 kam "Das goldene Zeitalter" heraus, ein einstündiger filmischer Angriff auf das Bürgertum und die christliche Moral, der aufgrund von Unstimmigkeiten zwischen seinen beiden Drehbuchautoren zur Trennung von Dalí noch vor Beginn der Produktion führte. 

Dank eines Angebots von MGM, sich mit dem Filmemachen in Hollywood vertraut zu machen, lernte Buñuel 1930 unter anderem Charlie Chaplin kennen. Der Spanier entdeckte sein Faible für die amerikanische Slapstick-Komödie und erkannte die subversive Kraft dieser burlesken Form des Kinos.

Produktivste Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg

Das Dokumentarische verliert er nie aus den Augen: In den frühen 1930ern dreht Buñuel "Las Hurdes" über den gleichnamigen spanischen Landstrich zwischen Cáceres und Salamanca, eine einsame Berggegend, in der Armut und Elend vorherrschen. Aus der Schilderung der Misere erwächst keine Perspektive auf Besserung. Der Film entlässt seine Zuschauer in die Ratlosigkeit, was offenbar Buñuels Absicht entspricht. 

Finanziert wurde das Werk vom spanischen Anarchisten Ramón Acin, der 1936 von Faschisten erschossen wurde. Die produktivste Zeit Buñuels als Regisseur brach nach dem Zweiten Weltkrieg an: Er arbeitete in Mexiko, drehte dort 20 Filme, darunter das am italienischen Neorealismus orientierte Jugenddrama "Los Olvidados – Die Vergessenen", in dem nurmehr zwei Traumsequenzen an seine früheren surrealistischen Filme anknüpften. 

"Die Vergessenen" um die brutalen Macht- und Überlebenskämpfe von Jugendlichen in den Slums in Mexiko City ist Buñuels bester Film dieser Phase. Im Jahr 1960 kehrt der Künstler, der inzwischen über einen mexikanischen Pass verfügte, nach Spanien zurück, dreht dort sein nächstes Meisterwerk "Viridiana", in dem eine mildtätige Nonne an den orgiastischen Ausschweifungen ihrer Schutzbefohlenen scheitert. Das Wer löste in Spanien einen gewaltigen Skandal aus.

Wenn der Terror das Dinner verhindert

Seine letzten mexikanischen Filme waren "Der Würgeengel" (1962) und "Simon in der Wüste" (1965). Buñuels Zusammenarbeit mit dem französischen Schriftsteller Jean-Claude Carrière (diverse Drehbuch-Beteiligungen) prägte das Alterswerk des Regisseurs in Frankreich ("Belle de Jour", "Die Milchstraße", "Das Gespenst der Freiheit"). Ein Highlight des humorvoll-bissigen surrealistischen Films – nicht ohne düstere Untertöne – bleibt "Der diskrete Charme der Bourgeoisie" (1972), in dem eine Gruppe wohlhabender Leute Abend für Abend versucht, miteinander zu dinieren, was regelmäßig scheitert: Es kommt zu Terrorangriffen, Verhaftungen, überraschenden Todesfällen und anderen Kalamitäten. 

Im späteren Verlauf kommt es zu einer verwirrend-amüsanten Abfolge ineinander verschachtelter Träume in Träumen, ein poetisches Verfahren, bei dem jegliche Behauptung von Individualität und Selbstbestimmung ad absurdum geführt wird. Dem Personal dieser Farce aus der Oberschicht voller oberflächlicher, sexbesessener, geldgieriger, korrupter und in Drogengeschäfte verwickelter Bürgerlicher begegnet Buñuel mit bitterem Spott.

Minutiös zeichnet Espada die Karriere und Filmografie des Visionärs nach, es gibt viele Einblicke in die Ikonografie und Themenvielfalt des poetischen wie ausgesprochen politischen Filmerzählers. Interessant ist der Verweis auf die stereoskopischen Bilder, die Buñuels Großgrundbesitzer-Vater in Calanda fotografierte und sammelte. 

Hinschauen ist gefährlich

In einigen zeigt sich tatsächlich ein surrealistischer Ansatz, der sich im seltsamen Medium Fotografie ganz zufällig ergibt. Susan Sontag hat über die Verbindung von Fotografie und Surrealismus in "On Photography" geschrieben. Und ohne das Dokumentarisch-Fotografische ist Buñuels Schaffen ja nicht denkbar. Deshalb ließ einen der Animationsfilm "Buñuel - Im Labyrinth der Schildkröten" (2019) auch eher ratlos zurück. Graphic Novel und Zeichentrick werden diesem Künstler nicht gerecht.

Wer mit seinem Werk wenig vertraut ist, dem droht auch beim Porträt "Buñuel: Filmemacher des Surrealismus" der Überblick verloren zu gehen; streckenweise fehlt es Espadas Film an Struktur und Stringenz. Das hängt sicher auch mit der Bildkraft und Bewegungsenergie des Buñuelschen Kinos zusammen; man braucht nur ein paar Minuten in den "Würgeengel" oder "Viridiana" hineinzuschauen, um zu spüren, wie hier eine Szene in die andere wie in einem mächtigen Räderwerk ineinandergreift. 

Es sind nicht (nur) die Bilder, es ist die Struktur aus Inszenierung und raffinierter Montage, die Buñuels surreale Welten im Inneren zusammenhält. "Buñuel" weckt aber definitiv die Lust darauf, das Archipel des großen Regisseurs (erneut) zu erkunden. Doch Vorsicht vor den Risiken und Nebenwirkungen dieses Kinos! Hinschauen ist gefährlich. Wenn die Bilder doch so rasiermesserscharf sind ...