Designerin Lou de Bètoly

"Ich mag die Idee, dass man aus Müll etwas Luxuriöses machen kann"

Lou de Bètoly schafft mit traditionellen Handwerkstechniken wie Sticken und Häkeln aufregende Couture-Stücke, die auch Beyoncé begeistern. Hier spricht die Designerin über Gegenbewegungen zur Fast Fashion, den Unterschied zwischen Berlin und Paris und Mode als Soziologie

Zweimal im Jahr wirft sich Berlin für vier Tage das Kleid einer Fashion Metropole über – oder versucht es zumindest. Neben Hauptstadt-Ikone Richert Beil, Kosmopolit Shayne Oliver und vielen jungen Talenten schaut man beim handwerklichen Können von Lou de Bètoly genauer hin, die anlässlich der Fashion Week einen Pop-up-Showroom bespielte. Durch ihren avantgardistischen Einsatz von traditionellen Techniken wie Häkeln entsteht eine bemerkenswerte Kombination von Zerbrechlichkeit und Widerstandskraft, die die Grenzen des Luxus-Upcyclings neu interpretiert und sich anderen Feldern wie zeitgenössischer Kunst öffnet. Sie selbst bezeichnet sich als "Aristocratic Punk", die ihre Inspirationen aus dem Surrealismus und dem Chaos zieht und mit ihren Kollektionen Fast Fashion etwas entgegensetzen will.

Lou de Bètoly, Sie kommen aus Paris, einer Stadt, die für Eleganz steht. Jetzt sind Sie in Berlin, einer Stadt, die eher nicht dafür bekannt ist. Was inspiriert Sie am meisten hier?

Generell finde ich es interessant zu reisen. Für mich ist es faszinierend, verschiedene Orte zu sehen und dort zu leben. Ich würde sagen, es stimmt, dass es in Paris etwas härter zugeht. Man könnte sagen: etwas verstaubt, in dem Sinne, dass man sich mehr auf etablierte Werte verlässt. Als ich vor zehn, 15 Jahren nach Berlin kam, hatte ich das Gefühl, dass die Stadt sehr underground war, sehr im Aufbau begriffen. Und vielleicht gibt dieses Gefühl mehr Freiheit, sodass man sich trauen kann, Risiken einzugehen, weil nicht alles schon da und etabliert ist.

Würden Sie sagen, Berlin ist wichtig für die Modeszene?

Ich finde, das ist eine sehr schwierige Frage, weil sich die Modeszene in Berlin sehr stark verändert. Und wenn man es mit Paris vergleicht, wo sich die Couture-Häuser etabliert haben - jeder reist nach Paris, um die Showrooms zu sehen - ist es sehr schwierig, über Berlins Modeszene zu sprechen. Berlin ist noch jung, aber es gibt definitiv einen Vibe, und jeder kennt ihn. Warten wir also ab, was passiert.

Können sie diesen Vibe in Worte fassen?

Ich finde, jeder Bezirk ist sehr, sehr unterschiedlich. Und manchmal habe ich sogar das Gefühl, in einer anderen Stadt unterwegs zu sein, obwohl ich eigentlich nur in einem anderen Bezirk bin. Das ist in jeder Stadt so, aber hier ist es sehr drastisch. Davon abgesehen ist der Berliner Style sehr sportlich. Ich habe das Gefühl, dass man in Paris sehr elegant sein muss, dass man ordentlich aussehen muss. Das ist hier nicht der Fall.

In vielen Ihrer Entwürfe verwenden Sie recycelte Produkte, zum Beispiel Brillengläser in einem Korsett. Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit in Ihren Kollektionen?

Als ich anfing, in der Modebranche zu arbeiten, habe ich mich selbst sehr in Frage gestellt. Ich hatte beschlossen, dass ich etwas machen möchte, bei dem ich mich wirklich wohl fühle. Denn wenn man ein Business hat, muss man natürlich Geld verdienen und bestimmten Mustern folgen. Dennoch fühlte ich mich bereit, ein Risiko einzugehen, Dinge anders zu machen. Dazu gehörte auch, dass ich keine Kompromisse bei der Handwerkskunst eingehen wollte. Und Nachhaltigkeit und die Arbeit mit Vintage-Produkten macht für mich einfach so viel Sinn. Es ist ganz natürlich.


Woher holen Sie ihre recycelten Materialien?

Wenn ich upcycle, kann alles von überall herkommen. Manchmal aus Deutschland, manchmal aus Frankreich, aus anderen Ländern, wenn ich irgendwo anders hinfahre.

Sie kreieren etwas Luxuriöses aus Resten, spielen Sie bewusst mit diesem Kontrast?

Ja, das ist meine Absicht. Im Allgemeinen mag ich verdrehte Dinge. Ich mag die Idee, dass man aus Müll etwas Luxuriöses machen kann. Denn der Wert, den man Objekten gibt, ist sehr individuell. Es ist interessant, warum dieses wertvoll ist und jenes nicht. Auf dem Flohmarkt kann man zum Beispiel einen Wandteppich für zwei oder fünf Euro finden, und wenn man ihn sich ansieht, denkt man: Oh mein Gott, da hat jemand vielleicht ein oder zwei Jahre dran gesessen.

Fast alle Ihre Looks sind gehäkelt oder gestrickt, was eigentlich traditionell und vielleicht auch etwas "uncool" ist. Aber in Ihren Kollektionen wirkt es sexy und modern. Warum gerade dieses Handwerk?

Wenn Sie denken, dass es cool ist, bin ich schon glücklich. 

Ich habe so etwas noch nie gesehen.

Vielen Dank. Ich habe schon als Kind angefangen zu basteln. Als ich fünf Jahre alt war, habe ich mit Kreuzstich und Stickerei angefangen, dann mit Häkeln, Stricken und Handnähen. Ich habe das Gefühl, dass ich die Technik sehr gut beherrsche, weil ich sie seit vielen Jahren mache. Ich glaube, es ist für mich auch etwas sehr Natürliches geworden, es zu benutzen. Je mehr man technisch weiß, desto einfacher wird es, damit kreativ zu sein. Deshalb macht es für mich Sinn, mit dem Handwerk zu arbeiten und es am Leben zu erhalten.

Ihre Handwerkskunst ist sehr zeitaufwendig. Das komplette Gegenteil von Fast Fashion. Was ist Ihre Meinung zum schnellen Konsum von Kleidern?

Ich habe eine sehr negative Meinung zu Fast Fashion. Ich finde es einfach so verrückt, wie schnell es ging. Von der Auslagerung der Produktion bis hin zu der Frage, wie es möglich ist, eine Jacke für zehn Euro zu kaufen. Wer sich die Zeit nimmt, eine Nadel und Garn zu nehmen, wird das verstehen. Ich glaube auch nicht, dass es den Verbrauchern mehr Freude bringt. Ich habe die Erfahrung gemacht: Wenn man den Preis für etwas bezahlt, das gut gemacht ist und von dem man ungefähr weiß, wie es hergestellt wurde, hat man mehr Freude daran und behält es in seinem Kleiderschrank. Man hat nicht das Gefühl: Oh, ich will es loswerden. Ich denke, wir sollten uns dessen bewusst sein.

Würden sie Ihre Kleidung als Haute Couture oder Ready-to-wear bezeichnen?

Ich glaube, es liegt zwischen Beidem, denn natürlich verwende ich Couture-Techniken, Handarbeit und Wissen. Aber ich bin auch in der Lage, kleinere Stücke zu machen, die tragbarer oder erschwinglicher sind. Es ist also ein Spagat. 


Ihre Mode ist sehr freizügig, ein Symbol für die Selbstbestimmung des weiblichen Körpers? 

Sie werden es vielleicht lustig finden, aber der ursprüngliche Gedanke, wenn ich etwas mache, ist nicht: Okay, lass uns etwas sehr Provokantes machen. Ich bin so fasziniert von Textilien, dass das Erste, woran ich arbeite, normalerweise eine Textilie ist. Es geht also darum, die verschiedenen Stickerei-Techniken zu vermischen, sodass man am Ende das Gefühl hat, dass es eine Einheit ist, auch wenn man viele verschiedene Techniken verwendet. Und wenn man sich darauf konzentriert, ist es auch sehr schön, wenn der Stoff und die Haut eins werden, wenn es fast so aussieht, als wäre es auf den Körper gezeichnet. Es gibt auch diese Art von Verdrehungen, wie ein Loch an der falschen Stelle, oder ein Kleid, das genau an einer Stelle zu kurz ist. Aber natürlich ist es sehr feminin. Etwas romantisch, aber auch ironisch, man kann es auf verschiedenen Ebenen interpretieren.

Was denken Sie über die Schönheitsideale in der Modeindustrie, auch im Kontrast zu Ihrer freizügigen Kleidung?

Denken Sie, dass es ein Kontrast ist?

Ja, für manche ist es vielleicht unangenehm, Ihre Kleidung zu tragen. Was denken Sie über verschiedene Körper-Typen in der Mode?

Zuerst sollte jeder damit anfangen, sich selbst zu mögen und mit sich selbst im Reinen sein. Ich weiß, wie schwierig das ist, aber das ist der Ausgangspunkt. Und wenn man mit sich selbst im Reinen ist, hat man unendlich viele Möglichkeiten, sich auszudrücken. Denn Kleidung und die Art, wie man sich kleidet, ist eine sehr persönliche Sache. Dadurch kann man steuern, wie einen andere Menschen wahrnehmen. Ich finde es cool, dass wir frei sind, das zu tragen, was wir wollen. Vielleicht nicht überall auf der Welt, aber ich rede hier und jetzt mit mir selbst. Freiheit ist das Beste, was man haben kann.

Glauben Sie, dass man seinem Charakter durch Kleidung Ausdruck verleihen kann?

Ich glaube, dass Mode Soziologie ist.

Ihre Kollektionen sind nicht nur Kleidung, sondern auch eine Art Kunstwerk. Sehen sie einen Unterschied zwischen Mode und Kunst?

Sobald es eine Funktionalität gibt, ist es Kunstgewerbe. Es gibt Mode, und es gibt Kunst. Es ist ein Unterschied, aber die Vorgehensweise ist sehr ähnlich. 

Auf Ihrer Website steht, dass Sie sich vom Surrealismus inspirieren lassen. Gibt es einen bestimmten Künstler oder Gemälde?

Ich mag die irrationale Idee, das Bizarre. Meine Pieces haben eine surrealistische, vielleicht dadaistische Stimmung. Absurdität, Schrägheit, Poesie, ein bisschen Dunkelheit, ein bisschen Humor: Das sind meine Inspirationsfelder.

Sie haben ein Bühnenoutfit für Beyoncé entworfen. Wie läuft sowas ab, haben Sie die Leute von Beyoncés Team einfach angerufen?

Ja, das war per Handy. Ich habe ein Briefing bekommen, über die Dinge, die sie für das Kostüm im Sinn hatten. Es war für ihre letzte Welttournee. Und dann haben sie mich gebeten, ein paar Ideen vorzuschlagen. Und dann wurde es bestätigt. Ganz einfach.

Und was war Ihre Inspiration für Beyoncés Outfit?

Der Vibe war ein bisschen wie der von Polly Maggoo aus den 60ern. Ich mochte diese Art von Futurismus. Außerdem habe ich all diese elektronischen Elemente wie Kabel und Handys eingearbeitet. 


Sie beschreiben sich selbst als "Aristocratic Punk". Was bedeutet das?

Es hat etwas mit meinem Künstlernamen Lou de Bétoly zu tun. Er ist ein Anagramm meines Geburtsnamens Odély Teboul und weist auf widersprüchliche Teile der Seele hin. Vom französischen deux bêtes au lit, was so viel bedeutet wie zwei Bestien in einem Bett. 

Sie sind vor kurzem Mutter geworden, hat das Ihren Blick auf Mode verändert?

Nein. Ich finde, dass es aus persönlicher Sicht sehr erfrischend ist, sich um jemanden kümmern zu müssen. Denn als kreativer Mensch achtet man oft nicht auf sich selbst und ist nur auf seinen kreativen Kopf konzentriert. Man dreht sich um sich selbst und arbeitet, arbeitet, arbeitet. Ich finde es cool, jemanden zu haben, um den man sich kümmern kann, so hat man etwas weniger Zeit bei der Arbeit und kann andere Dinge tun. Und wenn man dann wieder arbeitet, ist man viel effizienter.