Pierre-Auguste Renoir malte sie besonders gern: Frauen auf Lichtungen, mit über die Schultern rutschenden Blusen oder ganz entkleidet, mit geschürzten Lippen oder verträumtem Blick - alle von ihnen mit einem Buch in der Hand. Auch wenn der französische Maler für seine impressionistischen Darstellungen von Leserinnen besonders bekannt ist, war er längst nicht der einzige Künstler, der eine besondere Faszination für sie verspürte.
Im 18. Jahrhundert, mit der immer höher werdenden Alphabetisierungsrate der Bevölkerung, stieg auch das Interesse an diesem Motiv in der Kunst. Die deutsche Malerin Angelika Kauffmann bildete junge Mädchen mit ihren Lektüren in Radierungen ab, der japanische Maler Ishibashi Kazunori zeigt sie im Bett liegend, der Franzose Pierre Antoine Baudouine niedergesunken auf einem Sessel.
Länderübergreifend hielt sich das Sujet in der Malerei über verschiedene Epochen. Robert Delaunay, der die Stilrichtung des dem Kubismus entlehnten Orphismus begründete, malte neun Versionen einer nackten Frau mit Buch, Paul Kleinschmidt zeigte eine Leserin im Stil der neuen Sachlichkeit, ebenfalls mit entblößter Brust.
Weibliches Lesen ist anstößig
Die Kunstwerke aus den verschiedenen Kontexten eint die Betonung auf Haltung und Haut der Frauen. Lesen wird oft eher als körperlicher Akt denn als geistiger Prozess verstanden. Pose und Ausdruck stehen über dem intellektuellen Gehalt.
Doch es ist eine spezielle Form der Körperlichkeit, die die Künstler wählten: häufig ist es eine erotische. Viele Frauen sind bei der Lektüre mit entblößten Brüsten oder ganz nackt abgebildet, der Gesichtsausdruck, falls er denn zu sehen ist, wirkt verträumt-entrückt und selbstvergessen. Diese Inszenierung hing mit der im 18. Jahrhundert im Zuge der Text-Expansion aufkommenden Vorstellung zusammen, dass weibliches Lesen anstößig sei.
In diesem Zusammenhang besonders häufig zitiert wird der Autor und Philosoph Jean-Jacques Rousseau, der in seiner Autobiografie "Confessions" von gefährlichen Büchern berichtet, die "nur mit einer Hand" gelesen werden - die andere Hand, hier kommt die Erotik wieder ins Spiel, werde bei diesen speziellen Bänden für die Masturbation benutzt. Diese Beschreibung glich einer Warnung.
Leselust bis Lesesucht
So mag es kaum ein Zufall sein, dass lesende Frauen auf vielen Gemälden ihre Lektüre locker in der Hand oder auf Schoßhöhe halten und sie sich in häuslicher Umgebung oder einsam in der Natur befinden. Eine Hand frei, die Vorstellungen somit ebenfalls. Beschrieben wird diese Sexualisierung mit den Worten "Leselust" bis hin zur "Lesesucht". Damit einher geht die Idee von Exzess, dem Nicht-Mehr-Aufhören-Können, dem Anregen der Fantasie, das erotisches Vergnügen hervorruft, was wiederum die Sucht zu lesen befeuere.
Die Lektüre verliert ihre Unschuld. Abgebildet wird immer nur die Andeutung, das mögliche "davor" - so sehr war weibliche Sexualität im 18., 19. und weiten Teilen des 20. Jahrhunderts noch ein Tabu. Dennoch bieten die Gemälde einen Imaginationsraum für sexuelle Gedanken - und das mit männlichem Blick. Selbst wenn die Lektüre mit der Libido der Frau verbunden ist, wird sie entsprechend der männlichen Perspektive dargestellt. Daliegend, mit entblößter Brust, allein, als wäre sie bereit, verfügbar - nicht nur die Bücher erscheinen als Objekt, sondern häufig auch die Frauen selbst.
Viel zu lesen wurde bei Frauen nicht mit Intellektualität und Bildung assoziiert, sondern durch die aufblühende Belletristik mit der Betonung von Lust, Schwärmerei und auch dem Entgehen häuslicher Pflichten. Die Geschlechter-Klischees von analytischen Männern und gefühlsbetonten Frauen wurden hier einmal mehr deutlich.
Das wird auch dadurch betont, dass die Bände, die sie in den Händen halten, meist kleinformatig und damit bewusst von großen Gelehrten-Büchern abgegrenzt sind. Frauen wurde, gesellschaftlich und in der Kunst, lediglich identifikatorische Genusslektüre zugeschrieben, während männliches Lesen mit Informationen assoziiert wurde. So führen es beispielsweise die Wissenschaftlerinnen Kathrin Wittler und Luisa Banki aus.
Junge Frauen dominieren das Feld
Spulen wir ein paar Jahrhunderte vor zur Gegenwart. Denn die Darstellungen gibt es noch immer, und derzeit sind sie wohl präsenter denn je. Nur nicht mehr als Gemälde, sondern überwiegend in Form von Fotos, die mit dem Handy gemacht und anschließend gepostet werden. Mit dem Hype um die Hashtags "Bookstagram" und "BookTok" (jeweils Mischwörter aus Instagram, TikTok und book) ist Lesen in den sozialen Medien ein beliebtes Thema. Dominiert wird das Feld von jungen Frauen. An die Stelle des männlichen Blicks tritt nun der weibliche, selbstinszenierende.
Heute werden lesende Frauen zum Glück nicht mehr als weitgehend gefährlich oder verrucht eingeordnet. Statt als Exzess-befeuernde Objekte wurden Bücher lange als Insignien des Bildungsbürgertums betrachtet. Nun bricht sich jedoch zusätzlich eine weitere Bedeutung Bahn. Denn mit TikTok und Instagram-Trends wird Lesen zu einem Hobby, das zum Vergnügen da ist, die Lektüre in Massen gleicht eher dem binge watching einer Serie als der Weiterbildung.
Doch der Sucht-Faktor hält sich. Nicht mehr als besorgte Fremdbeschreibung wie im 18. Jahrhundert, sondern von den weiblichen Bücher-Fans selbst diagnostiziert. Sie nennen sich #Bookaddict, kaufen und verschlingen Texte in Mengen.
Nicht nur das Lesen an sich wird gefilmt und besprochen, die Begeisterung weitet sich zu langen Buchhandlungs-Shoppingtouren aus, passende Merchandise-Artikel werden beschafft, die Regale aufwändig in Szene gesetzt, mal mit Lichterketten, mal mit farblicher Sortierung, dazu kommen Lesesessel, Teetassen und Teppiche.
Die Stimmung ist cozy, die Gestaltung der Umgebung relevant. Lesen wird als intimer Akt gezeigt, der vor allem zu Hause und alleine stattfindet - dieser Vorgang erinnert an die Gemälde vergangener Epochen. Vornehmlich junge Frauen zeigen sich auf Fotos und in Videos lesend in ihren Betten liegend, auch mal auf Fensterbänken, näher an die Natur kommen sie kaum, sitzend oder halb liegend auf Sesseln.
Erst lesen, dann posten
Die Bilder unter #bookstagram, #lesenmachtglücklich oder #bookishness sind inszenierte Selbstporträts, bei denen gepost, bearbeitet und ins rechte Licht gerückt wird, so wie es in den sozialen Medien gang und gäbe ist. Auf den Accounts der Bookfluencerinnen finden sich außerdem zahlreiche Fotos, auf denen Bücher umarmt oder ihre Cover in die Kamera gehalten werden, lediglich noch die Hände sind dann zu sehen, die Perspektive dieser Bilder ist einmal mehr der weibliche Blick.
Sie sind aufgenommen aus der Perspektive der Buch-Besprecherinnen und zeigen, wie sie auf ein neues Hardcover blicken - das Buch wird wiederum zum Objekt. Dennoch kann die Körperlichkeit nicht ganz vergessen werden, sie zeigt sich in der Lese-Performance und Positionierung in atmosphärisch passenden Räumen. Doch es gibt einen großen Unterschied zu den Gemälden lesender Frauen und den damit verbundenen Gedankenspielen.
Instagram würde Bilder, auf denen nackte Frauenbrüste zu sehen sind, zwar sowieso zensieren - doch die Darstellungen sind von vornherein unschuldig und brav gehalten. Gebrochen wird die rosa-Plüsch-Atmosphäre dennoch: durch die Bücher selbst. Während es in zahlreichen Kunstwerken noch die Frauen selbst waren und nicht die Bücher, die die Erotik sichtbar machten, ist es nun genau andersherum. Auch wenn die Tätigkeit des Lesens unter Frauen selbst nicht mehr primär als Zugangstor zur Welt der Selbstbefriedigung wahrgenommen wird, steckt in den Büchern, die auf den sozialen Medien gehypt werden, tatsächlich oft ein hohes Maß an sexuellem Inhalt.
Besonders beliebt ist das Genre "Young-" oder "New Adult", bei dem es sich vor allem um Liebesgeschichten junger Menschen handelt. Belletristik und "Gefühlsliteratur" bleiben also weiterhin größtenteils weiblich codiert. Oft haben die Geschichten des beliebten Genres explizit erotische Passagen - im passenden BookTok-Sprech "Spice".
Diese Komponente der erotischen Fantasie findet auf den Bildern nur sehr subtil statt, es ist ein Code, der erst entschlüsselt werden muss und meist nur von jungen Leserinnen selbst gekannt wird. Die wenigsten Young-Adult-Bände lassen durch ihre Gestaltung auf viele, teils harte, Sex-Szenen schließen. Die Community selbst aber weiß Bescheid und sortiert sie selbstbewusst nach "Spice-Levels".
Gespielt wird vor allem mit dem Kontrast: der kuscheligen Umgebung, den Jogginghosen und Oversize-Pullovern neben dem nicht sichtbaren, erotischem Inhalt. Die brave Anmutung der Bilder clasht mit dem Inhalt, man kennt die betreffenden Codes. Einen wirklichen Aufschrei oder Sorgen produziert der "Spice" aber auch nur noch selten, und wenn, dann geht es dabei kaum um das was, sondern das wie. Die Debatten drehen sich dann um die Darstellungen von Konsens und weiblicher Selbstbestimmung, nicht aber um Warnungen vor Selbstbefriedigung. Die Erotik spielt also weiterhin eine Rolle, nur eine viel subtilere, kaum sichtbare. Und eine, die von Frauen selbst bestimmt wird.