Leni Riefenstahl und die Kunst

Wir knicken immer noch vor ihr ein

Wer sich heute mit der totalitären Ästhetik von Leni Riefenstahl künstlerisch auseinandersetzt, muss selbst Anfeindungen fürchten. Dabei wäre eine Beschäftigung mit ihren Bildwelten dingender denn je

Zur wuchtigen Orchesterbegleitung wird ein Diskus geschwungen, fliegen ein Speer und eine Gusseisenkugel durch die Landschaft. Die Musik in Ruben Malchows Kurzfilm "Fest der Liebe" (2005) stammt aus dem ersten von zwei "Olympia"-Filmen von Leni Riefenstahl. Auch der Schnitt analog zur Originalmusik von 1936 und die Choreografie erinnern an das vermeintliche Vorbild, in dem Hitlers Lieblingsregisseurin Körperkult, Wettkämpfe und nicht zuletzt den Nationalsozialismus abfeierte.  Bei Malchow, der seine Riefenstahl-Parodie während seines Studiums an der Kunsthochschule für Medien Köln produzierte, sind allerdings keine Idealkörper zu sehen, sondern ein beleibter, sehr behaarter Mann, ein Kleinwüchsiger und eine Transfrau. Ob Speerwurf oder Reifen-Kür – beim "Fest der Liebe" ist die Geschlechtertrennung nach Disziplinen aufgehoben. Und den olympischen Fackellauf absolvieren Leute, die sonst bestenfalls in der Zuschauermenge verschwinden würden. Die olympische Fackel wird am Schluss übrigens von Ruben Malchow höchstselbst in einen See geworfen. 

Plakativ und in parodistischer Umkehrung entlarvt Malchow das ästhetische Grundmuster in Riefenstahl-Filmen wie "Triumph des Willens" oder "Olympia": Das Schöne, Starke, Geordnete wird hervorgehoben, das Chaotische, das vermeintlich Schwache, Andere, Fremde wird ausgeblendet. In letzter nationalsozialistischer Konsequenz werden diejenigen, die nicht ins Raster passen, ausgemerzt – wie bis 1945 millionenfach geschehen. Andres Veiels jetzt in den Kinos angelaufener Dokumentarfilm "Riefenstahl" belegt eindrucksvoll, wie die Filmemacherin nicht nur die Blaupause für das verbrecherische Regime lieferte, sondern dass Riefenstahl, bis zu einem gewissen Grad immerhin, auch als Täterin verstrickt war. 

In der Nachkriegszeit spielte Riefenstahl, die erst 2003 im Alter von 101 Jahren starb, ihre Mitverantwortung herunter und erklärte sich zur unpolitischen Künstlerin. Und sie versuchte, teilweise mit Erfolg, ihre Propagandawerke als reine Dokumentarfilme zu verkaufen. Vor allem bei "Triumph des Willens" über den Reichsparteitag der NSDAP im September 1934 in Nürnberg klingt das natürlich wie blanker Hohn. Und für die Brauchbarkeit der Riefenstahl-Ästhetik im politischen Kontext spricht auch deren Adaption in jüngerer Zeit: bei der Siegesrede des Irakkrieges von Präsident George W. Bush 2003 auf einem Flugzeugträger, bei der Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus nach seiner Corona-Erkrankung 2020 oder in der Art und Weise, wie Wladimir Putin sich und Militärparaden in Moskau inszenieren lässt.

Totalitarismusverdacht bei künstlerischen Verweisen auf totalitäre Ästhetik

Als wäre aber das Riefenstahl-Zitat schon toxisch genug, geraten immer wieder Künstlerinnen und Künstler ins Kreuzfeuer, wenn sie mit Verweisen auf totalitäre Ästhetik arbeiten. Ausgenommen ein parodistischer Ansatz wie bei Ruben Malchows oben erwähnter queerer Olympia-Variation.

Die 1970 in Israel geborene Künstlerin Yael Bartana hat schon immer gern mit Versatzstücken politischer Propaganda gespielt. Ihre im polnischen Pavillon der Venedig-Biennale von 2017 uraufgeführte Videotrilogie "… and Europe will be stunned" brachte sie unter Totalitarismusverdacht. Da tritt in einem Warschauer Stadion der Führer des fiktiven "Jewish Renaissance Movement in Poland" auf, um die Rückkehr von "3,3 Millionen Juden nach Polen" anzukündigen. 2012 fand im Berliner Hebbel-Theater ein Kongress der "Bewegung" statt, eine dreitägige Mischung aus politischer Diskussion und Happening, seitdem hat die sehr oberflächliche Kritik an Bartanas ikonografischen Grenzgängen nachgelassen.

Im deutschen Pavillon der aktuellen Venedig-Biennale widmet sich die Künstlerin der Science-Fiction-Idee eines Raumschiffs, das die Menschheit von der unbewohnbar gewordenen Erde in die Zukunft trägt. Auf einem monumentalen Videoschirm lässt Bartana einen muskelbepackten Fackelträger auf die Zuschauer zurennen, der Leni Riefenstahl sicher gefallen hätte. An einer anderen Stelle sind junge Frauen in weißen Flatterkleidchen zu sehen, die im Wald tanzen, auch dieses Bild lehnt sich an Inszenierungen aus der NS-Zeit an.

Yael Bartana "Farewell", Filmstill, 2024
Foto: Courtesy IFA und Yael Bartana

Yael Bartana "Farewell", Filmstill, 2024

Doch auch diese "faschistoiden" Momente lassen sich nicht herausgreifen und isoliert gegen die israelische Künstlerin wenden. Denn Bartana modifiziert die Bilder im Filmverlauf, lässt einen muskulösen Tänzer auftreten, dessen Kopfschmuck an die Freiheitsstatue erinnert und der feminin konnotierte Bewegungen ausführt. Und aus der Kraft-durch-Freude-Gruppe wird ein wild choreografiertes Tänzer-Rudel mit Tiermasken. Haben wir es überhaupt mit NS-Ästhetik zu tun, die Bartana im nächsten Schritt wieder auflöst?

Im Katalog zur Biennale-Arbeit "Farewell" ist von der "Labanotation" die Rede, die der Choreograf Rudolf von Laban im frühen 20. Jahrhundert entwickelte. Laban hatte noch 1936 die Choreografie der Olympischen Sommerspiele vorbereitet und emigrierte dann über Frankreich nach England. Interessant auch die Verbindung von Leni Riefenstahl mit dem Ausdruckstanz, der von Laban wesentlich geprägt wurde. 1923 besucht Riefenstahl die Dresdner Tanzschule der berühmten Laban-Schülerin Mary Wigman. Eine Knieverletzung beendet 1924 Riefenstahls kurze Tanzkarriere. Die mindestens so ehrgeizige wie begabte Berlinerin wechselt ins Schauspielfach, wird risikobereite Darstellerin in Arnold Fancks Bergfilmen und schließlich selber Regisseurin.

Riefenstahls künstlerische Fähigkeiten bleiben hochumstritten. Andres Veiel sieht zumindest bei der Dokumentarfilmerin und Schneidetisch-Virtuosin "Glutkerne" von künstlerischem Vermögen (die sich nur "leider" nicht von der faschistischen Prägung entkoppeln lassen). Für andere, etwa die Riefenstahl-Biografin Nina Gladitz (1946-2021), gilt sie als reine Karrieristin, die andere Kreative schamlos ausgenutzt und kaum ein Bild, kaum einen Filmschnipsel wirklich selbst geschaffen hat.

Das Schöne ist aus der Trias des Wahren, Schönen und Guten ausgebrochen

Den Ästhetizismus, für den das Schöne vor Ethik, Erkenntnis oder Spiritualität rangiert, hat Riefenstahl ohnehin nicht erfunden. Der italienische Schriftsteller Gabriele D’Annunzio (1863-1938) war hier die prägende Figur, er gilt als Ideengeber (nicht nur) für den italienischen Faschismus. Für die Fortexistenz der sogenannten Riefenstahl-Ästhetik ist es ohnehin unerheblich, wer sie erfunden hat. Man muss das Phänomen der ästhetischen Gleichschaltung bei gleichzeitiger Verdrängung des "unschönen" Anderen noch nicht einmal so nennen. Es ist trotzdem immer noch da, als Haltung, hier und heute. In "Riefenstahl" zeigt Veiel einen Outtake aus Heinrich Breloers "Speer und Er. Nachspiel – die Täuschung", in dem die greise Riefenstahl, ganz der Altstar, laut über faltenmildernde Lichtsetzung nachdenkt. Von hier aus lassen sich Parallelen zu Instagram-Filtern und Schönheitswahn, aber auch zum Bodyshaming ziehen, das adipöse Menschen davon abhält, ins Freibad zu gehen. Das Schöne ist aus der Trias des Wahren, Schönen und Guten ausgebrochen – und man kann nicht umhin, Leni Riefenstahl ein kleines bisschen mitverantwortlich zu machen. 

Der Zivilisationsbruch der NS-Zeit hat neben handfesten auch ästhetische Spuren (Aisthesis – griechisch: Sinneswahrnehmung) hinterlassen. Jeder mag das bei sich selbst entdecken, am persönlichen Scheuklappenblick, mit dem wir (perspektivisch) die Menschen ausgrenzen, die uns nicht ins Bild passen.

Andererseits passt die totalitäre Vergangenheit nicht ins Bild einer ach so pluralistischen und demokratischen gesamtdeutschen Gesellschaft. Dabei könnte man im Ewiggestrigen die Umrisse einer unschönen Zukunft erahnen – wenn nicht gegengesteuert wird. Eine um sich greifende Geschichtsvergessenheit ist da nicht hilfreich.

Riefenstahl hat heutige Bild- und Werbewelten infiziert

Und was nützt es, Scheuklappen hinsichtlich der Bilder und ihrer totalitäre Produzentinnen und Produzenten aufzusetzen? Themenausstellungen zur Kunst aus dem Nationalsozialismus sind immer wieder (und oft zu Unrecht) kritisiert worden – da nützte die eingehendste Kontextualisierung oft nichts. Einzelausstellungen zu NS-Künstlern bleiben problematisch – wie etwa die Schau "Zur Diskussion gestellt. Der Bildhauer Arno Breker" 2006 im Schweriner Schleswig-Holstein-Haus –, weil solistische Präsentationen fast automatisch in Richtung Heldenverehrung abdriften. Es ginge aber darum, die Qualitäten von künstlerischen Positionen anzuerkennen – und auch einzurechnen, dass die betreffenden in totalitären Zusammenhängen tätigen Kunstschaffenden in diesen Zeiten eben als Künstlerinnen und Künstler anerkannt waren. Ist das Kunst oder kann das weg, darf man heute fragen. Aber was leider nicht in die Tonne kann, weil es die heutigen Bild- und Werbewelten längst, nun ja, infiziert hat – siehe Leni Riefenstahl –, muss konsequenterweise auch analysiert und diskutiert werden. 

Es war eine Erleichterung, Thomas Assheuers positive Rezension zu "Riefenstahl" in der aktuellen "Zeit" zu lesen. Die meisten Kritiken, einige erschienen bereits nach der Venedig-Uraufführung im September, scheinen von Abwehr geprägt. Man gewinnt den Eindruck, dass Andres Veiel, der seine Hauptfigur und ihr problematisches Schaffen wirklich ernstnimmt, für die Annäherung an Riefenstahl geradezu abgestraft wird. Da man nicht einfach "Pfui" schreiben kann, wird das euphemistisch umformuliert, Hauptsache, die Kritik lässt wohlfeil durchblicken, dass man sich von Nazi-Ästhetik distanzieren möchte.

Das Wissen-wir-doch-schon-Argument, das hier und da angebracht wurde, ist dabei letztlich auch nur ein Instrument, sich das toxische Thema vom Leib zu halten. Es entbehrt auch der Grundlage: Wenn "wir" wirklich schon immer "wussten", was für eine schlimme Nationalsozialistin Riefenstahl war, wie konnte Alice Schwarzer dann noch 1999 unter der Headline "Propagandistin oder Künstlerin?" in der "Emma" einen haarsträubend relativierenden Artikel schreiben. "Denn das war einer der Gründe für das Verhängnis der Leni Riefenstahl: ihr Glaube an die 'reine Kunst'", schrieb Schwarzer, "an eine von Inhalten losgelöste Form (was heute durchaus wieder Mode ist)."

Riefenstahl hat einen langen Arm

Dabei war es ein von Riefenstahl konstruierter, reiner Nachkriegsmythos, dass die Filmemacherin eine "unpolitische Künstlerin" war. Veiel belegt das Gegenteil. Und er zeigt auf bestürzende Art und Weise, wie Riefenstahl auch nach 1945 vom Nazitum beseelt war. Ein renommierter Filmkritiker und Hochschulprofessor für Filmgeschichte erzählte dem Autor, er habe Andres Veiel vor Jahren ausgelacht, als dieser ihm vom Riefenstahl-Projekt erzählte. Und dieser Filmhistoriker, so lachhaft das klingt, wollte sich "Riefenstahl" auch gar nicht anschauen. Weil die Leni so schlecht war. Als wäre schlechte – aber eben offenbar tiefenwirksame – Kunst eine Ausschlusskriterium.

Seltsame Reaktionen gab es auch auf die Monopol-Anfrage an heutige Kunstschaffende. Wir wollten mit ihnen über Riefenstahl-Ästhetik sprechen – und wie man in der Kunst damit umgehen kann, wie man die Bilder kritisch hinterfragt und womöglich auflöst. Keine Reaktion von Yael Bartana, obwohl sie doch, wie oben geschildert, mit problembehafteter Ikonografie sehr klug umzugehen weiß. Trotz mehrmaliger Anfragen, und teilweise nach mündlicher Zusage, blieben auch andere Kunstschaffende Antworten schuldig. Eine Person, die in der Vergangenheit mit totalitären Motiven gearbeitet hatte, gab uns ein Interview zum Thema und zog dieses dann wieder zurück. Mit nachvollziehbarer Begründung: Diese in der Kunstwelt sehr bekannte Person – nein, es ist nicht Jonathan Meese! – möchte nicht (mehr) in einem Text mit dem Schlagwort "Riefenstahl" vorkommen, weil das in unserer "Clickbaiting-Welt" (O-Ton) zu Missverständnissen führe. 

Schlussfolgerung: Riefenstahl, die zu Lebzeiten zig Prozesse führte, um diejenigen mundtot zu machen, die sie zur Rechenschaft ziehen wollten, hat einen langen Arm. Wir knicken immer noch vor ihr ein. Halten Abstand, damit wir ja nicht selber als Rechtsextreme oder Nazi-Versteher verunglimpft werden. Derweil machen sich die echten Nazis in den Parlamenten breit. Sie benutzen TikTok, wie sich Leni Riefenstahl dem damals bahnbrechenden Medium Film bedient hat, um Hitler propagandistisch zu dienen.

Ein trauriges Fazit 

Apropos TikTok: Das Künstlerduo Jakob Ganslmeier & Ana Zibelnik spürt der Ästhetik neo-faschistischer Männlichkeitsbilder nach, findet diese – Überraschung! – in diversen Social-Media-Kanälen und stößt dabei auf altbekannte Motive des Nazibildhauers Arno Breker. So hinterfragen Ganslmeier und Zibelnik in ihrer Videoarbeit "Bereitschaft" (2024) die Unreflektiertheit, mit der militaristisch-kraftstrotzende Ikonografie auf TikTok und Plattformen von der rechten Szene vereinnahmt werden – und sogar von einer "Bro-Kultur" des Mainstreams aufgegriffen werden.

"Riefenstahl" arbeite sich zu sehr an seiner starrsinnigen Hauptfigur ab, ist in diversen Filmkritiken zu lesen. In Interviews betone Andres Veiel ihre Wirkung bis heute, heißt es, aber warum zeigt er es nicht? Mögliche Antwort: Ob man NS-Propaganda mit TikTok vergleicht, von einem chinesischen Konzern betrieben, bei AfD-Politikern beliebt, ob man Hitler mit Putin oder Trump gleichsetzt – all das sind meistens schiefe Vergleiche. Aber wer "Riefenstahl" und das heutige politische Geschehen mit wachem Verstand betrachtet, zieht natürlich Parallelen. Man darf gerne selber denken. Dann stellt man womöglich fest, dass totalitäres Denken, Überlegenheitsgefühle, Verdrängung und Ausgrenzung – das ganze Riefenstahl-Paket – allgegenwärtig sind. Wenn die Kunst die braunen Stellen sichtbar macht, ist das nicht Teil des Problems, sondern eher ein Bewältigungsversuch. Aber die Kunstschaffenden, so der Eindruck, trauen sich immer weniger zu, diese toxischen Bildwelten zu bezwingen. Andres Veiel, der mit "Riefenstahl" nichts weniger als ein Kunstwerk geschaffen hat – ein aufklärerisches Gegenkunstwerk, um die verbissene Leni zu entwaffnen –, bildet eine denkwürdige Ausnahme.

Was für ein trauriges Fazit. Mit Kunst lernen wir sehen. Aber wir sollen nicht hinschauen, wo die Bilder toxisch sind? Angesichts verdummter (Bilder-)Konsumenten reiben sich die Machthaber die Hände. Im Juli 2028 finden die Olympischen Sommerspiele in Los Angeles statt. Falls der US-Präsident dann Donald Trump heißt, dürfen wie uns auf prachtvolle Bilder freuen.