Als Robert Venturi und Denise Scott-Brown 1972 "Learning From Las Vegas" veröffentlichten, kam das einem kleinen Affront gleich. Denn schon damals galt die erst 1905 offiziell begründete Casino-Metropole als hoffnungslos verbaute, mehr als alberne Angelegenheit. Ein Monument des kleinen Mannes, hemmungslos überdimensioniert und geschmacklos. Nichts, mit dem sich seriöse Architekturforscher beschäftigen, geschweige denn von ihr lernen sollten. Und doch taten Venturi und Scott-Brown genau dies, quartierten sich mit ihrem Co-Autoren und Studioleiter Steven Izenour sowie Studierenden zusammen in der auf Sand gebauten Stadt ein und fotografierten, filmten und notierten, was ihnen vor die Augen kam.
Es war ein Ikonoklasmus zur rechten Zeit: Ein knappes halbes Jahrhundert zuvor hatte der Architekt Alfred Loos als ein wichtiger Vordenker der Moderne in seinem rasiermesserscharfen "Ornament und Verbrechen" polemisch bis ätzend gegen die bis dato gängige Praxis der Dekoration gewettert. Nun war es an Brown und Venturi, die ehedem sicher geglaubten Prämissen der Moderne abermals niederzureißen. Als lovers, not fighters, wenn man so will: Ihre Mittel waren die der aufmerksamen Beobachter, der Widersprüche großherzig Mitdenkenden und zunächst einmal Umarmenden. Die Wirkung ihrer Arbeit hätte trotzdem kaum radikaler ausfallen können.
Architecture meets Pop Art
Die Essaysammlung "Eyes That Saw – Architecture After Las Vegas" will nun den enormen Einfluss nachzeichnen, den Scott-Browns und Venturis berühmte Feldstudie auf Architektur, Design und nicht zuletzt die Bildenden Künste nahm. Dies alles nicht zu vergessen in einer Zeit, in der, wie Stanislaus von Moos und Martino Stierli im Vorwort notieren, "die Krassheit des Las Vegas Strip für den desinfizierten, hoch-modernistischen Geschmack des typischen 70er-Jahre-Bürogebäudes war, was der 1920er Delage Grand Sport[wagen] für die perfümierten Art déco-Lounges derselben Ära darstellte: eine Lehreinheit in unverstellter Zeitgenossenschaft."
Die Essaysammlung eignet sich außerdem als gute Erinnerung daran, dass beide keineswegs mit einem anything-goes-Begriff von Postmoderne zu schaffen hatten, mit dem sie im Nachgang immer wieder in Zusammenhang gebracht werden. Ob sie diesen Vorschub geleistet haben, weil man ihre Ideen in ihrer vollen Komplexität nicht zu Ende gelesen und ihre Theorien nicht zur Tiefe nachvollzogen hat? Gut möglich, aber das wäre eine andere Frage.
Im Buch kann man nun gemeinsam mit Kunsthistorikerin Katherine Smith die Hochglanz-emaillierten Oberflächen von Claes Oldenburgs Pop Art-Burgern entlangschlittern und nachlesen, wo sich ebenjene Pop Art mit Vegas, Vegas mit Venturi und Scott-Brown, und deren Erkenntnisse wiederum mit Dan Grahams Miniatur-Architekturen oder der frühen Fotoserie "Homes for America" verschränken. Später kommt Graham auch selbst zu Wort: "Ich bin bloß ein Durchschnittstyp aus New Jersey," leitet der Künstler seinen Beitrag ein, um sich dann an seine erste Verteidigung Venturis zu erinnern. Dessen Transportation Square in Washington hatte Serra dereinst als faschistisch bezeichnet, was Graham mit den Worten konterte: "Ich denke, Richard Serras Standpunkt war ein bisschen faschistischer, als er realisierte."
Anschauung vor dem Urteil
Anekdoten und Analyse wechseln sich ab, so wie man es auch aus Büchern und Vorträgen von Denise Scott-Brown oder Robert Venturi kennt. Neben wichtigen Querverbindungen zur Kunst, insbesondere zur Pop Art, macht "Eyes That Saw" nachvollziehbar, was die Erkenntnisse aus Vegas, das Bedürfnis nach Symbolen, Schildern, letztlich der verschmähten Dekoration für die Gestaltung des urbanen Raums bedeutet. Einen ganz neuen Pfad macht schließlich Peter Fischli auf, von dem man sich hier in einem reichlich bebilderten Beitrag erklären lassen darf, warum sogar das Bauhaus (und das modernistische Zuhause seiner Kindheit) schon Las Vegas antizipierten.
Am Schluss ist der Titel dieser Essaysammlung wörtlich zu nehmen. Die Bewertung (wenn man bei Venturi und Brown überhaupt von so einer sprechen konnte), die Einsortierung und Analyse folgten immer erst nach dem gründlichen Sehen. "Eyes That Saw" ist wie das berühmte Werk, auf das es sich bezieht, ein Plädoyer für die Anschauung vor dem Urteil und damit für eine Praxis, um die es ja auch aktuell besser bestellt sein könnte.