Kurator Liav Mizrahi

"Israel wird nicht dasselbe Land bleiben"

Liav Mizrahi organisierte im vergangenen Sommer in Berlin eine Ausstellung über Israel, die Vielgesichtigkeit des Landes und der Politik. Der in Tel Aviv lebende Künstler und Kurator berichtet im Gespräch von den Rissen in der Gesellschaft, wie die jüngsten Hamas-Angriffe Israel getroffen haben und was Künstlerinnen und Künstler jetzt tun

Liav Mizrahi, wie geht es Ihnen? Wo sind Sie jetzt gerade?

Ich bin mit meinem Partner zu Hause. Vor einer halben Stunde gab es einen Alarm, und wir mussten in den Luftschutzkeller – vielleicht gibt es also eine Pause während unseres Gesprächs.

Als wir per E-Mail in Kontakt waren, haben Sie erwähnt, dass Sie gerade Freiwilligenarbeit leisten.

Alles hat am Samstag vor einer Woche angefangen, als alle unter Schock standen. Das hat mindestens zwei Tage angedauert. Jetzt mache ich jeden Tag vier Stunden lang Sandwiches. Viele Leute helfen, wo sie nur können. Sie sammeln Spenden, und in der Nähe meines Hauses gibt es viele Restaurants, die ihre Küchen geöffnet haben und die Menschen einladen, Essen zu kochen, auch für die Soldaten. Die Menschen aus dem Grenzgebiet zum Gazastreifen wurden evakuiert und sind in Hotels untergebracht.

Wissen Sie, wie Künstlerinnen, Künstler und Kunstinstitutionen auf die Angriffe reagiert haben?

Ich habe Leute gesehen, die Tanz-, Theater- und Kunsttherapie organisieren, und sie gehen dorthin, wo die Menschen aus dem Süden sind. Sie versuchen, mit ihnen zu arbeiten. Die Institutionen hingegen sind alle geschlossen. Es gibt kein Theater, keinen Tanz. Im Allgemeinen stehen die Menschen immer noch unter Schock. Jeder kennt Opfer – Israel ist ein kleines Land. Viele sind gestorben.

Die Menschen, die nach Tel Aviv kommen, müssen traumatisiert sein. Wie kommen sie damit zurecht?

Nur einige sind in Tel Aviv, manche am Toten Meer, wieder andere in Eilat, der südlichsten Stadt, einige in Kibbuzim im Zentrum des Landes. Ich glaube nicht, dass es posttraumatisch ist, denn das Trauma dauert noch an. Alles ist noch im Gange. Ich habe mit einem Freund aus dem Süden gesprochen, aus dem Kibbuz Be'eri. Sie haben dort hundert Menschen verloren. Die Mutter eines befreundeten Künstlers ist immer noch verschwunden. Er glaubt, dass sie entführt worden sein könnte, oder dass man die Leiche einfach noch nicht gefunden hat. Die Häuser vieler Menschen sind niedergebrannt, aber ich glaube auch, dass sie nicht mehr dorthin zurück wollen. Eine Frau, mit der ich zusammenarbeite, hat Familie in einem der Kibbuzim im Süden und zwei Kinder in der Armee. Sie sagt, sie arbeitet, weil sie an nichts denken will. Die Menschen leben weiter, Tag für Tag.

Das klingt verheerend.

Es ändert sich jede Minute, und es geschieht immer noch. Das Schöne in diesem Chaos und Trauma ist das Engagement, und wie die Menschen nach zwei Tagen des Schocks immer noch aufstehen. Es ist unglaublich, wie sich die Menschen freiwillig betätigen, und das ist natürlich eine Reaktion auf die Regierung, die im Moment nicht funktioniert.

In diesem Sommer haben Sie in Berlin die Ausstellung "Who by Fire" kuratiert, die in einem sehr spezifischen Kontext stattfand. In Israel sind Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die anstehende Justizreform und die rechte Regierung zu protestieren. Hat sich die Stimmung in der gegenwärtigen Notlage gedreht?

Wir haben zwar schon vorher angefangen, die Ausstellung zu planen, aber wir haben die Schau wirklich aus diesen Demonstrationen heraus kuratiert. Und die Menschen und Organisationen, die an den Protesten teilgenommen haben, Aktivist*innen und Reservist*innen der Armee, sie sind nun an die Arbeit gegangen und engagieren sich. Es gibt eine feministische Organisation, die aus den Protesten hervorgegangen ist und jetzt Kleiderspenden für die Frauen im Süden sammelt. Der Fokus hat sich von der Regierung zu den Menschen verlagert. In gewisser Weise haben alle Initiativen, die mit dem Protest entstanden sind, die Regierung ersetzt – es ist vielleicht schwer vorstellbar, aber in der Regierung funktionierte nichts. Ein Großteil der Arbeit der letzten Tage wurde von Freiwilligen der Proteste geleistet. Niemand verweigerte seine Hilfe, während die rechte Regierung die Demonstranten als Verräter und Anarchisten bezeichnete. Vielleicht war die Ausstellung in Berlin selbst ein Omen, etwas, das in den Sternen stand. Jetzt ist es wirklich schwer vorstellbar, Kunst zu machen. Obwohl ich es versuche. Es ist ein schmaler Grat zwischen Kunst machen und dem Nachdenken über das Leben. Aber manchmal kann Kunst auch heilsam sein. Am Anfang, am Sonntag, am Montag, fürchteten alle um ihr Leben. Ich habe mich noch nie so gefühlt. Ich halte mich für einen starken Menschen, und ich kann sehr konzentriert sein, aber am Anfang hatten wir alle Angst, auf die Straße zu gehen, weil wir nicht wussten, woher die Anschläge kamen und ob es auch in Tel Aviv passieren konnte. Aber jetzt bin ich viel entspannter.

Welche Art von Kunst machen Sie in einem solchen Moment?

In der Woche vor dem Anschlag habe ich angefangen zu malen. Ich dachte an die andere Seite, an die Menschen im Westjordanland, und wie sie unter den Siedlungen und unter der Besatzung leiden. Ich malte das Bild eines Teenagers, der von der Armee oder von Siedlern getötet wurde, aber auch Bilder von Kindern, die verhaftet wurden. Das habe ich am Freitag gemacht, und am Samstagmorgen begannen die Angriffe. Dann herrschte in meinem Kopf ein Sturm. In Israel haben wir viele Künstler, die politisch links stehen. Sie blicken auf die andere Seite der Grenze. Was jetzt passiert ist, ist eine solche Katastrophe, und ich weiß nicht, wie wir zurück zum Dialog gelangen können. Ich glaube, es ist etwas zutiefst zerbrochen. Normalerweise sterben in einem Krieg – und in Israel haben wir viele Kriege – Soldaten, das ist leider das Gesetz des Krieges. Aber wenn 1300 Zivilisten sterben, Frauen, Kinder und alte Menschen, und wenn viele entführt werden, dann ist das kein Krieg. Das ist Terror.

Wie erleben Sie die Reaktionen auf die Angriffe?

Ich habe niemandem in meinem Umfeld gesehen, der zur Bombardierung des Gazastreifens aufgerufen haben – aber es gibt Leute in Israel, die das fordern. Ich bin sicher, dass sie nicht klar denken, so wie ich im Moment auch nicht klar denke. Erst gestern habe ich meinem Partner gesagt, dass es erst der dritte Tag ist, obwohl es sich schon wie ein Monat anfühlt, weil es so intensiv ist. Auf Instagram rufen die Leute in meinem Feed – wenn sie nicht gerade trauern – dazu auf, die Geiseln zu befreien und dann eine Lösung zu finden. Vor etwa einem Monat veranstaltete die Künstler*innenorganisation in Israel einen Tag mit allen Künstler*innen und Kurator*innen, und wir sprachen darüber, was Kunst im Kontext des Protests sein sollte. Wir sprachen über Bildung und Kunst in den besetzten Gebieten und Kunst bei den Demonstrationen. Aber jetzt und in dieser Situation ist es vielleicht noch zu früh, um zu verstehen, was man mit Kunst machen kann. Die einzige Kunst, die ich mir jetzt vorstellen kann, dient der Heilung, wie eine Medizin, die der Seele hilft. Im Moment befindet sich die Kunstwelt in Israel in einem Schockzustand. Während der Demonstrationen gegen die Regierung gab es etwas Lebendiges, es gab viel Kreativität. Das Ziel war es, ein besseres Leben zu haben. Jetzt ist alles dunkel. Am vergangenen Freitag jährte sich der Jom-Kippur-Krieg zum 50. Mal, und wir haben drei oder vier Ausstellungen zu diesem Thema, darunter eine große im Kunstmuseum von Tel Aviv. Das jetzt ist ein neuer Krieg.

Ihre Ausstellung "Who by Fire" hat einen Bezug zum Jom-Kippur-Krieg – es ist der Titel eines Lieds von Leonard Cohen, den er einem Gebet entnommen hat, nachdem er 1973 für die israelischen Verteidigungskräfte gespielt hatte.

Es ist seltsam, wie etwas, über das man nachdenkt – und dann passiert es plötzlich. Aber im Moment gibt es keinen Leonard Cohen, der nach Israel kommt und hier auftritt.

Ihre Ausstellung fand auch in einem anderen Kontext statt – dem nach der Documenta, der Debatte um Antisemitismus und um die BDS-Bewegung. Haben Sie irgendwelche Erfahrungen mit BDS gemacht? Haben Sie das Gefühl, dass israelische Künstler weniger Gelegenheit haben, ihre Werke zu zeigen?

Ich habe keine Erfahrung mit BDS, und ich hatte nie Probleme damit. In der israelischen Kunstwelt wussten die Leute von der Documenta, aber das war nicht wirklich ein großes Thema. Es war nur schade, dass es keine israelischen Künstler in der Ausstellung gab. Die Angriffe der Hamas hingegen töten Babys, weil sie jüdisch sind, und das ist antisemitisch. Dabei geht es nicht um Menschenrechte, die Besatzung oder die Palästinenser. Ich weiß nicht, wie die Welt reagieren wird und wie die BDS-Position dazu aussehen wird. Vielleicht gibt es mehr Empathie für unsere Situation. Ich habe in den Nachrichten gelesen, dass an einem einzigen Tag so viele Jüdinnen*Juden gestorben sind wie seit dem Holocaust nicht mehr. Ich glaube nicht, dass die Menschen jemandem die Schuld geben wollen. Die Menschen wollen Frieden. Israel wird nicht dasselbe Land bleiben, denn was jetzt passiert ist, ist so einzigartig. Es wird größer sein als wir.

Ich habe darüber nachgedacht, wie der Begriff Zionismus verwendet wird. Für einige Leute ist es beinahe ein Schimpfwort, und scheinbar versucht die Rechte, ihn sich anzueignen. Ich bin neugierig, was die Linke mit dem Begriff macht.

Ich sehe mich selbst auf der linken Seite, und ich finde, dass die Rechten den Zionismus nicht wirklich verstehen. Die rechten Siedler machen im Westjordanland eine Menge Ärger, und die Regierung hat viele Soldaten von der Grenze zum Gazastreifen abgezogen und dort stationiert. Deshalb gab es im Süden keine Armee – und die Menschen waren ungeschützt. Der Zionismus allerdings ist eine große Frage. Ich glaube daran, aber auf die alte Art. Israel hat eine Grenze, dazu gehört die Negev-Wüste, Tel Aviv, der Norden, vielleicht. Ich denke, die Rechten zerstören diese Grenze. Sie haben das Westjordanland wieder besetzt, und ich bin sicher, dass es in der Regierung Leute gibt, die darüber nachdenken, den Gazastreifen wieder zu besetzen. Ich weiß nicht, ob Israel noch Israel sein kann, wenn das passiert. Ich denke, die wahren Zionisten sind die Linken, die sich um das Land kümmern. Sie glauben an Israel, und sie glauben, dass es für alle da ist. Israel befindet sich im Moment am Scheideweg. Wenn etwas von meiner Ausstellung im Sommer bleibt, dann, dass sie versucht hat, verschiedene Wege für Israel aufzuzeigen. Vielleicht ändern sich die Dinge jetzt. Vielleicht werden die Rechten verstehen, dass zu viel Blut vergossen wurde.

Wie geht es jetzt weiter?

Es ist jetzt wirklich wichtig, die Geiseln zurück nach Israel zu bringen. Ich habe das Gefühl, wenn wir nicht über sie sprechen, werden die Menschen sie vergessen. Ich denke, es ist wichtig zu sagen, dass Israel die Hamas als Organisation ausschalten muss, aber auf keinen Fall zwei Millionen Menschen töten darf. Wir trauern jetzt, weil sie unschuldige Menschen umgebracht haben, aber ich möchte nicht auf der anderen Seite stehen und andere Menschen töten. Ich bin sicher, dass die Kunst zurückkommen wird. Ich kann nicht ohne sie leben. Ich bin auch Kunstlehrer, und ich bin sicher, dass ich nächste Woche wieder lehren werde. Das und Kunstmachen ist im Moment wichtig. Was jetzt passiert, wird in Ausstellungen, Filmen und in Literatur zu sehen sein. Aber es ist einfach noch zu früh.

Was können die Menschen in Europa tun, um zu helfen?

Vielleicht mit der Kritik und den Protesten gegen Israel warten. Israel macht Fehler – das weiß ich. Aber es ist viel zu einfach, darüber zu urteilen, wenn man in Europa oder den USA lebt.