Hamburgs Institutionen haben Tradition. Der Kunstverein, gegründet 1826, ist der zweitälteste Deutschlands. Im Harburger Bahnhof werden seit 1999 die ehemaligen Räumlichkeiten eines historischen Wartesaals für Zugreisende bepielt. Insbesondere mit Interventionen im öffentlichen Raum macht der Kunstverein St. Pauli seit 2006 von sich reden.
Seit vergangenem Jahr ist Hamburg um einen weiteren Kunstverein reicher: In einem ehemaligen Kontorhaus, zwischen Einfallstraßen und Industrieromantik, Wohngebäuden und Büro-Tristesse weist eine Lichtinstallation von Merlin Reichart bereits von Weitem auf den Kunstverein Gastgarten hin. Im ehemaligen Hinterland der Museumsmeile, das sich zu einem kulturellen Hotspot entwickelt, ergänzt der Kunstverein Gastgarten die Perlenkette zahlreicher Off-Spaces mit seinem Programm und einer unverwechselbaren visuellen Identität.
Geführt von einer Dreierspitze, bestehend aus Heiko Lietz und Anna Maria Linder (kuratorische Arbeit), sowie dem Creative Director Jonas Mannherz, entwickelte sich der Gastgarten innerhalb kürzester Zeit zu einer festen Größe der Kulturszene und einem Magneten für eine überaus diverses Publikum.
Anna Maria Linder, Heiko Lietz und Jonas Mannherz, der Kunstverein Gastgarten ist nicht Hamburgs erster Kunstverein. Sie sind vielmehr die vierte Institution, die das Prädikat im Namen trägt. Was war der Auslöser für die Idee, einen weiteren Kunstverein zu gründen?
Heiko Lietz: Die Idee ging aus einem Magazin hervor. Seit 2020 haben wir den "Gastgarten" herausgegeben, in dem es vor allem um Interdisziplinarität ging. Die Ausstellungspraxis haben wir aus der Gelegenheit eines Raumes entwickelt, den wir bespielen konnten. Antrieb gab dabei die Frage, die auch ich mir zu dieser Zeit stellte: Ich war mitten in meinem Kunstabschluss an der Hochschule für Bildende Künste (HFBK) – was wäre also der nächste Schritt, wenn man nicht etwa direkt das Hamburg Stipendium bekommt? Wir überlegten gemeinsam: Wenn wir Ausstellungen machen, wo sehen wir noch eine Nische? Jetzt fokussieren wir uns auf emerging Positionen und wollen einen Raum schaffen, der sich um die ersten Schritte von Künstler:innen nach dem Studium kümmert.
Haben Sie ein auf diese jüngsten künstlerischen Positionen zugeschnittenes Programm? Gibt es eine thematische Ausrichtung oder einen anderen Fokus als andere Räume ihn haben?
HL: Vom Magazin ausgehend legen wir großen Wert auf ein thematisches Jahresprogramm. Damit sind wir natürlich nicht allein, aber es bildet einen zentralen Aspekt. Bereits im Magazin gab es jeweils einen thematischen Fokus. Die Einzelbeiträge bildeten ein Netz inhaltlicher Bezüge.
Anna Maria Linder: Wir haben außerdem ein sehr vielfältiges Programm, das ist uns in der Planung wichtig. Unser Ausstellungskonzept ist sowohl medial sehr abwechslungsreich als auch hinsichtlich dessen, welchen Künstler:innen wir eine Plattform geben wollen.
Suchen Sie die Künstlerinnen und Künstler, oder finden die Sie?
HL: Künstler:innen fragen entweder an und landen dann auf der mentalen Liste von Anna oder von mir. Oder wir sehen Positionen, die wir spannend finden. Anschließend setzen wir uns zusammen und schauen nach Schnittmengen in unseren Listen. Darüber ergibt sich dann ein Thema oder ein Zusammenhang. Letztlich ist es dann ein Austausch zwischen den Positionen, zwischen dem, was wir an den Positionen spannend finden, wie wir sie spannend finden und welche Schnittmengen sich darüber ergeben.
Was war das Thema im Jahr 2024?
HL: "(Dys-)functional Relations". Wir haben uns mit Relationierungsweisen auseinandergesetzt und damit, wie diese Verbindungen stiften können und wann sie in Dysfunktionalität umschlagen. Belia Zanna Geetha Brückner hat zum Beispiel Objekte gesammelt, die verschenkt wurden; mit der Intention der Wiedergutmachung nach konfliktreichen Situationen in Familien oder Beziehungskonstrukten. Das Dysfunktionale hängt hier mit der Beziehung und dem Versuch des Brückenbauens zusammen, bekommt aber auch einen bitteren Beigeschmack. Dazu gab es auch eine größere Recherche.
AML: Clara Lena Langenbach wiederum hat das Dysfunktionale ganz anders aufgegriffen, sie beschäftigt sich anhand ihrer eigenen Skoliose-Diagnose mit dem dysfunktionalen Körper. Diese beiden Positionen stehen exemplarisch dafür, in welcher Bandbreite wir das Thema verstanden haben.
HL: Oder, um auch noch das Funktionale im Titel zu veranschaulichen: Da gab es die Veranstaltung "Haben wir noch Butter?" vom Cake & Cash Collective. Es waren verschiedene Positionen geladen, und der Raum entwickelte sich zum Denkort darüber, wie sich künstlerische Produktion gerechter denken lässt. Zu diesen dreien, das ist wiederum eine Besonderheit unseres Vereins, haben wir eine Begleitpublikationen herausgegeben. Diese Publikationen entstehen nicht zu jeder Position, aber immer dort, wo es der Kontext hergibt. Die Publikationen sind ein Erbe des Magazins, für die Gestaltung ist Jonas zuständig. Wir fragen uns dabei gemeinsam mit den Künstler:innen, wie eine Publikation aus ihrer Praxis heraus konzipiert werden kann.
AML: Der Inhalt dieser Publikationen ist total frei, was echt Spaß macht. Es gibt eigentlich nur eine einzige Vorgabe: Sie sollen mehr sein als nur eine reine Dokumentation der Ausstellung. Es ist also explizit kein klassischer Ausstellungskatalog mit Fotos und zugehörigem Text, sondern ein tiefergehender Einblick in die Arbeitsweise der Künstler:innen oder in Themen, die für die jeweiligen Personen relevant sind. Ein wissenschaftlicher Zugang mit viel Text beispielsweise – oder völlig neue Werkreihen.
HL: Das Tolle ist, dass die Publikationen nachhaltige Sichtbarkeit ermöglichen können. Sie funktionieren in sich geschlossen. Im Idealfall hat man die Ausstellung gesehen und sich das Büchlein angeschaut, dann hat man the best of both worlds. Aber sie sollen eben auch unabhängig voneinander funktionieren. Wir haben dieses Jahr relativ viele Einzelausstellungen gemacht, für viele der Künstler:innen auch erste Einzelausstellungen, die dann in vielen Fällen direkt mit einer Publikation verbunden sind. Wenn man sich das in den CV schreiben kann, sieht das ganz hübsch aus. Gleichzeitig finden wir diese Arbeit sehr sinnvoll, um zu sagen: Auch diese Position hat eine Publikation verdient, nicht nur der etablierte Kanon.
AML: Gleichzeitig sammeln junge Künstler:innen so Arbeitserfahrung: Wie mache ich eine Publikation? Was fällt da alles an? Wie sprechen ich mit einem Grafikdesigner, wie spreche ich mit einer Lektorin – und was brauche ich dafür eigentlich alles?
Wie finanzieren sich diese Publikationen?
Jonas Mannherz: Sie werden aus den Verkäufen bezahlt. Wir gehen praktisch in Vorleistung und alles, was verkauft wird, zahlt den Druck. Unsere Arbeit ist da nicht bezahlt.
HL: Da sind wir auf der Suche nach einem Sponsoring.
Aber Sie bekommen von der Stadt die Raummiete gefördert?
HL: Genau, das läuft über die Programmförderung und muss jedes Jahr aufs Neue beantragt werden. Der Betrag dieser Förderung wird jedes Jahr neu verhandelt und neu vergeben.
AML: Darin ist im Grunde die Miete enthalten. Und es gibt Honorare für die Künstler:innen, aber leider keine für die Organisation rundherum. Es gibt bis dato leider keine Kurator:innen-Honorare, nichts für Lektorat, nichts für Texte, nichts für die Grafik. Im besten Fall kann man hierfür projektspezifisch weitere Förderungen heranholen.
HL: Was mehr ist als die Miete, steht für den Raum zur Verfügung. Das ist aber nicht genug, um das angemessen zu bezahlen. Für die Künstler:innen gibt es ergänzend einen separaten Topf, aus dem ihre Honorare bezahlt werden. Einen Topf für die Macher:innen von Kunstorten gibt es nicht.
Das heißt, Sie machen das komplett ehrenamtlich?
HL: Ja, außer wir kriegen gute Förderungen. Allerdings ist es auch sehr viel Arbeit, diese immer wieder zu beantragen.
AML: Ich würde sagen, wenn wir Glück haben, ist es ein Nullsummenspiel.
Sie, Anna Maria Linder, sind zusätzlich zu Ihrem zeitintensiven ehrenamtlichen Engagement hier auch junge Mutter. Können Sie diese Situation gut in den Arbeitsprozess einbinden?
AML: Ich möchte Mutterschaft ungern als Art Handicap verstanden wissen, schließlich bin ich nicht trotz Baby Kuratorin sondern jetzt halt mit. Der Fakt, dass ich ein Kind habe, ist nämlich nicht das Problem, sondern die Art, wie man dafür in vielen beruflichen Kontexten "bestraft" wird. Wir sind aber ein kleines Team aus Selbständigen und legen viel Wert darauf, uns intern sehr ehrlich darüber zu unterhalten, was unsere Kapazitäten gerade hergeben und was eben nicht. Da geht es viel darum, Prioritäten zu setzen und Bedürfnisse zu formulieren, was auch mit Frust verbunden sein kann. Aber wir sind gut organisiert und planen seit meiner Schwangerschaft für die meisten Arbeitsprozesse deutlich mehr Zeit ein.
Ich finde Ihre Namensgebung interessant: Ein Gastgarten ist ein Ort, an dem man sich aufhalten soll. Wie sind Sie auf diesen Titel gekommen? Inwiefern spiegelt er die Intention des Ortes?
JM: Wir hatten die Idee des Magazins und wollten möglichst viele Menschen, die ähnliche Themen bearbeiten, verknüpfen. Wir wollten metaphorisch so etwas wie einen großen runden Tisch schaffen, an dem alle zusammensitzen und darüber diskutieren können, was sie machen. Heiko hat zu dieser Zeit in Wien gelebt, und dort war der Gastgarten sehr präsent. Relativ schnell war dann klar, dass dieses Wort gut passt. Ohne einen Biergarten-Vibe aufzumachen, und weil es in Deutschland diese Konnotation so gar nicht gibt.
HL: Außerdem sind Alliterationen einfach top. Also eigentlich ist es, wie Jonas ausgeführt hat, eine Metapher für einen runden Tisch. Daher der Name.
AML: In welchem ja auch etwas grundsätzlich Niederschwelliges mit enthalten ist. Es ist der Gedanke an einen Ort des Austauschs. Ein Ort, an dem man sich vernetzen kann. Alisa Tsybina hat das Thema in ihrer Eröffnungsrede so schön aufgegriffen: Wir alle, speziell auch in dieser Branche, sind angewiesen auf die "Familie". Darauf, dass man Synergien schafft, dass man sich kennt, dass man miteinander arbeitet. Es geht viel um Leidenschaft, niemand macht das fürs Geld.
HL: Der Gastgarten ist ein Angebot dafür. Es ist vielleicht ein etwas doofes Detail, aber es ist eben auch kein Zufall, dass die Bar direkt am Eingang steht. Man kommt rein und die Leute, die gastgebend sind, sind da. Man wird als erstes begrüßt und muss nicht erst den Weg finden.
AML: Dieses Jahr hatten wir Besuch von verschiedenen Uni-Exkursionen. Das hat uns besonders gefreut, weil das ja eigentlich auch genau das ist, was wir erzielen wollen. Der Kunstverein Gastgarten ist als Ort gedacht, an dem Menschen aus den verschiedensten Bereichen aufeinandertreffen.
Sie betreiben den Kunstverein Gastgarten nun bereits im zweiten Jahr. Wie wäre denn Ihr Publikum insgesamt zu charakterisieren? Gibt es überhaupt ein spezifisches Publikum?
AML: Ich würde sagen, das orientiert sich sehr an den Künstler:innen, die wir zeigen. Viele sind mit Hamburg verbunden. Von Ausstellung zu Ausstellung wächst das Publikum. Viele Personen kommen inzwischen immer wieder. Besonders freut uns, dass wir von etablierten Kulturschaffenden wahrgenommen und besucht werden.
HL: Dadurch, dass Anna und ich beide an der Uni promovieren, besteht auch noch die ergänzende Verbindung zur Theorie, zur Kunstgeschichte und auch zur Kunstvermittlung.
Worauf dürfen wir uns denn dieses Jahr freuen?
HL: "Tales of Perception". Das Jahresprogramm 2025 umfasst vier Einzelausstellungen, zwei Doppelausstellungen und drei Gruppenausstellungen. Außerdem vier Publikationen und mindestens eine Veranstaltung. Die Veranstaltungen sind dabei oft unabhängig von den Ausstellungen. Letztens haben wir beispielsweise eine Filmpremiere gehabt. Jonas hat gemeinsam mit Géraldine Schabraque und Sarah Drath einen Film über die St. Georgsburg, ein ehemaliges Außenlager des KZ Neuengamme, produziert. Das ist das Gebäude neben unserem Kunstverein. Der Film wurde von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme unterstützt und von der Hamburgischen Kulturstiftung gefördert. Wir hatten auch eine Veranstaltung mit dem Titel "QUE", wo es um queere Performancepraktiken ging. Diese wird 2025 fortgesetzt. Zudem wird es zwei Gastkurationen geben. Für zwei der besagten Gruppenausstellungen haben wir Menschen eingeladen, bei denen wir uns gefragt haben: Wenn wir die eingeladen, um eine Ausstellung zu machen, wie könnte das dann aussehen? Mit diesen Gastkurationen möchten wir unsere Position explizit durch andere Blickwinkel erweitern.
AML: Im Sinne des Jahresthemas "Tales of Perception" fanden wir es passend, dieses Format zu ergänzen, weil es uns eben um verschiedene Perspektiven und verschiedene Arten des Geschichtenerzählens und von Wahrnehmung im weitesten Sinne geht.
Wenn man Sie nach Ihren Wünschen für die Zukunft des Kunstvereins Gastgarten fragen würde, wie sähen Ihre Visionen aus?
AML: Dürfen wir jetzt sehr utopisch sein? Festanstellungen und sozialversichert sein. (Gelächter)
HL: Dass wir den Verein und die Arbeit, die dort passiert, auf gut durchfinanzierte und solide Beine gestellt bekommen. Dass unsere Arbeit und die der Künstler:innen angemessen bezahlt werden kann. Dass sich die Entwicklung der Reichweiten so weiterzieht. Die Richtung stimmt schon mal – unsere Arbeit bleibt nicht ungesehen, und wir bekommen viele positive Rückmeldungen.