Ein junger Mann hängt kopfüber an einem Haken und singt "I did it my way". So jedenfalls der Plan des Koreaners Tschoe One für die "Meisterschüler_innen"-Ausstellung im Kunstverein Braunschweig. Einen Raum weiter könnten Bauschutzplanen ein Zimmer markieren – Abbild eines Heimstudios, das sich Johannes Moeller, Meisterschüler bei Asta Gröting, einrichtete, als er wegen Corona nicht in die Hochschule hineinkam. Die Krise und der Lockdown haben die Braunschweiger Hochschule für Bildende Künste (HBK) zeitweilig lahmgelegt und die Konzeption der Ausstellung verzögert.
Es wird trotzdem eine tolle Schau, daran lassen die Telefonate mit dem Künstlernachwuchs keinen Zweifel. Julia Sophia Lökenhoff freut sich schon jetzt auf den Spiegelsaal der frühklassizistischen Kunstvereins-Villa Salve Hospes, in dem ihre queere Performance um eine Hexenfigur namens IAGA stattfinden wird. Abgeleitet ist der Name vom Balenciaga-Schriftzug auf einem Kapuzenshirt, das Anne Imhof in Venedig trug. "Ich sammle ganz viel Material, dann gibt’s einen Kurzschluss", sagt Lökenhoff, Meisterschülerin von Raimund Kummer. Der Gedankenblitz diesmal: IAGA, da steckt Baba Jaga drin, die russische Märchenhexe.
Jetzt zaubern sie im Rekordtempo eine Ausstellung zusammen – Kunstvereins-Direktorin Jule Hillgärtner als Kuratorin und 18 Studierende aus dem aktuellen Meisterschülerjahrgang. Es ist die erste Kunstschau dieser Art in der Villa. Die studentische Speerspitze stellte früher immer in Räumen der Braunschweiger Kunsthochschule aus. Seit ein paar Jahren werden die höheren Semester jedoch in die Museen und Institutionen der Region geschickt, im Sommer 2019 fanden parallel Ausstellungen in der Städtischen Galerie Nordhorn und im Mönchehaus Museum Goslar statt. Braunschweig ist stolz auf seine international angesehene Hochschule.
Das Städtische Museum zeigt noch bis zum 27. September eine Hommage von Tobias Dostal und anderen Ex-Studierenden auf ihren vor zehn Jahren verstorbenen Professor Christoph Schlingensief ("Projizieren Sie selbst!"). Die HBK hatte viele Professoren und Professorinnen, die die jüngere Kunstgeschichte geprägt haben, darunter Marina Abramović, Walter Dahn, Birgit Hein und Norbert Tadeusz.
"Kopfüber hängen ist besser als sterben"
Aktuell lehren Candice Breitz, Natalie Czech oder Nasan Tur im Studiengang Freie Kunst. Von einem Generationswechsel spricht Vanessa Ohlraun, die seit 2017 amtierende HBK-Präsidentin. "Über die Hälfte der Professuren waren zu meinem Antritt unbesetzt und werden seitdem neu ausgeschrieben", sagt Ohlraun. Die Hochschule soll zeitgemäß sein und Schritt halten mit künstlerischen, aber auch mit gesellschaftlichen Entwicklungen. Vanessa Ohlraun hat Diversity und Inklusion zur Chefinnensache erklärt, hat Workshops gegen Sexismus und Rassismus initiiert. Die HBK vernetzt sich zunehmend mit dem Ausland, die Studentenschaft wird diverser.
Das Stipendienprogramm Braunschweig Projects bringt seit 2011 junge Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt an die Hochschule. Maëva Grapain ist Meisterschülerin von Thomas Rentmeister, der sie erst im vergangenen Jahr an die HBK gelockt hat. Die Französin, die früher an der Villa Arson in Nizza studierte, hat es nicht bereut. "Das ist kein Vergleich", sagt Grapain, "denn während Professionalisierung in Braunschweig großgeschrieben wird, wurde in Nizza eher unterbunden, dass man in der Kunstwelt Fuß fasste."
Das ist ihr schon gelungen. Sie und ihr Bruder Arnaud arbeiten im Duo, wie Archäologen der Jetztzeit sammeln die beiden Relikte einer von Krisen und Umbrüchen geprägten Welt. Im Kunstverein stellt Maëva Grapain die Fotoserie "X-Ray" aus. Das Geschwisterpaar reist stets mit einer analogen Kamera im Handgepäck; die Röntgenstrahlung von Sicherheitskontrollen hinterlässt "Sci-Fi-Landscapes" (Grapain) auf den Filmen. Es sind mehr oder weniger deutliche Spuren, an denen sich das Sicherheitsbedürfnis oder die Paranoia eines Staates ablesen lässt. Getreu dem koreanischen Sprichwort "Kopfüber hängen ist besser als sterben", so erzählt Tschoe One, ließ der Meisterschüler von Corinna Schnitt "My Way" unter erschwerten Bedingungen singen. In der Ausstellung wird wahrscheinlich ein Video der Performance zu sehen sein: Ein hochkant angeordnetes Flachbildschirm-Paar mit der gefilmten Hängepartie wird an einer Kranwaage baumeln.
Frank Sinatra sang: "And now, the end is near, and so I face the final curtain". In der Villa Salve Hospes geht dagegen der Vorhang auf, denn den 18 Künstlerinnen und Künstlern der HBK gehört die Zukunft.
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Der Braunschweiger Kunstverein, gegründet bereits 1832, residiert in der frühklassizistischen Villa Salve Hospes und der dazugehörigen Remise. Die zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstler nehmen die Herausforderung gern an, auf die denkmalgeschützte Architektur mit neuen, ortsspezifischen Produktionen zu reagieren. In den letzten Jahren waren unter anderem Ausstellungen von Yayoi Kusama (2003), Mark Wallinger (2007), Pamela Rosenkranz (2010/11) oder Georgia Sagri (2017) zu sehen.
Seit 2015 gibt es das sogenannte "Gästezimmer": Wer im Kunstverein ausstellt, kann wiederum andere Künstler und Künstlerinnen einladen, dort einen Raum zu bespielen, im Sinne der Gastfreundschaft, die die Villa Salve Hospes im Namen trägt. In diesem Herbst zeigt Kuratorin Jule Hillgärtner, die den Kunstverein seit Ende 2014 leitet, neben der Absolventenausstellung der "MEISTERSCHÜLER_INNEN" der HBK die Ausstellung "Prima Quallerina" des Künstlers und Literaten Markues. Ab November folgen die kanadischen Künstlerinnen Kathy Slade, Jeneen Frei Njootli und Nadia Belerique sowie in der Remise Malereien von Gili Tal.