Sam Gilliams bunte Stoffe schweben im Raum. Sie sind in Pastellfarben bemalt und nur punktuell befestigt, wodurch sie voluminöse Falten werfen. Die Draperien erinnern in ihrer Anordnung an die dekorativen Textilien vergangener Tage: der Antike, des Mittelalters, der Zeit zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert. In Abgrenzung dazu sind Gilliams Malereien jedoch nie Dekor, nie Schmuck oder Beiwerk. Sie kapern den Raum, der sie umgibt, nutzen ihn, um mit seiner Hilfe die Grenze zur Dreidimensionalität zu durchbrechen.
Unter anderem mithilfe dieser Draperie-Technik hat Gilliams das kollektive Verständnis von Malerei in den sieben Jahrzehnten seiner Karriere nachhaltig geprägt. Immer wieder war es dem Künstler gelungen, sich und seine Kunst neu zu erfinden. Nun ist Gillam im Alter von 88 Jahren verstorben. Das gaben die Galerien David Kordansky und Pace bekannt. Bis zu seinem Lebensende hatte er an seinem Œuvre gearbeitet, erfuhr auch für seine späten Gemälde große Anerkennung. Er hinterlässt seine Frau Annie und mehrere Kinder.
Gilliam wurde im Jahr 1933 in Tupelo, Mississippi geboren. Schon als junger Erwachsener gehörte er zu den wichtigen Persönlichkeiten der sogenannten Washington Color School, einer Bewegung, die in den 1950er-Jahren ihren Anfang gefunden hatte. Mit großen Farbfeldern antwortete sie auf die Werke des Abstrakten Expressionismus in New York. Gilliam prägte die Bewegung, als einer ihrer wenigen afroamerikanischen Künstler, wie kaum ein anderer. Mitte bis Ende der 1960er-Jahre erfandt er ein charakteristisches Stilmittel, das ihn von seinen Kolleginnen und Kollegen stark unterschied: Er schuf insbesondere Gemälde mit abgeschrägten Kanten und Drapierungen, indem er ungedehnte Leinwand faltete, bevor er sie mit Acrylfarbe befleckte. Daraufhin spannte er sie auf abgeschrägte Rahmen.
Entfesselung der Leinwand
Sein nächster radikaler Schritt erscheint als logische Konsequenz dieser Technik: Er verabschiedete sich noch zu Ende der 1960er-Jahre von Keilrahmen und ließ zu, dass die Leinwände ein Eigenleben entwickelten. So entstanden seine bekannten Draperie-Malereien, auf Englisch "Drapes". Mit diesen schrieb er sich in die Kunstgeschichte ein. Indem er die gebeizten Leinwände an Decken und Wänden aufhängte, veränderte Gilliam das Medium der Malerei.
Mit der Entfesselung seiner Leinwände reagierte Gilliam damals auf das gesellschaftlich-politische Umfeld, das ihn umgab. "Das Jahr 1968 war ein Jahr der Offenbarung und Entschlossenheit", sagte der Künstler einmal. "Etwas lag in der Luft, und in diesem Geist habe ich die Drape-Gemälde gemalt." Mit diesem Schritt brachte es der Künstler zu internationaler Anerkennung. 1972 durfte Gilliam die Vereinigten Staaten auf der Biennale in Venedig im Rahmen einer Gruppenpräsentation vertreten.
Lebenslange Entwicklung
Von seiner damaligen Arbeit ausgehend entwickelte Gilliam seine Kunst in den folgenden Jahrzehnten stetig weiter. So schuf er in den 1980er-Jahren beispielsweise seine sogenannten Quilt-Gemälde. Diese bestehen aus mehreren Schichten dicker Acrylfarbe auf Leinwand, die er in geometrisch Formen schnitt. Gilliam ordnete sie neu an, ließ abstrakte Muster entstehen. In jüngster Zeit widmete sich der Künstler unter anderem großformatigen Gemälden auf Papier und Holz.
Gilliams Arbeiten sind in wichtigen Sammlungen auf der ganzen Welt zu finden. Dazu gehört unter anderem das Art Institute of Chicago, die Tate Modern in London, das Museum of Modern Art (MoMA) in New York, das Whitney Museum of Art in New York, das Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris oder die National Gallery of Art in Washington, D.C. Zuletzt, im Jahr 2021, erwarben die Dia Art Foundation und das Museum of Fine Arts in Houston gemeinsam sein frühes Drape-Gemälde "Double Merge" aus dem Jahr 1968, das dauerhaft im Dia Beacon gezeigt werden soll. Im Hirshhorn Museum and Sculpture Garden in Washington, D.C. ist bis zum 11. September die Schau "Sam Gilliam: Full Circle" zu sehen.
Auch im deutschsprachigen Raum fand Gilliams Arbeit Anerkennung. So widmete ihm unter anderem das Kunstmuseum Basel im Jahr 2018 die Ausstellung "The music of color". Es war seine erste institutionelle Einzelausstellung in Europa und konzentrierte sich vor allem auf die Schaffensphase, in der Galliams Kunst wohl als am radikalsten galt: Die Zeit zwischen 1967 bis 1973, in der seine Neutarierung der Malerei ihren Anfang nahm.