Marcel Odenbach ist 24, als er 1977 zur Documenta eingeladen wird. Und – heute kaum denkbar für jemand in diesem Alter – er sagt ab. Dann besinnt er sich: Warum nicht die Absage selbst in Kassel inszenieren? So verschenkt er an die Besucher mit dem Stempel "ABGELEGT" markierte Zeichnungen. Im selben Jahr hält der damalige Architekturstudent das Fernsehen für überholt und träumt von einem Medium zum Selbermachen, das dem Mainstream eigene Aufnahmen entgegenhält: Bilder, die etwa an den Kulturbruch durch das NS-Regime erinnern oder den gegenwärtigen Umgang mit RAF-Terror, mit Gewalt und Fremdheit offenlegen.
Papierarbeiten hat Odenbach dabei nach der Documenta-Aktion keineswegs "abgelegt". Zunächst benutzte er sie als Skizzen zu den Videos, später standen vor allem die Collagen mehr und mehr für sich. Auch in diesem Medium thematisiert der 1953 geborene Odenbach den Umgang mit Geschichte und deren Erinnerung. Wie am Freitag bekannt wurde, wird der in Köln lebende Künstler 2021 mit Wolfgang-Hahn-Preis der Gesellschaft für Moderne Kunst am Kölner Museum Ludwig ausgezeichnet. Marcel Odenbach sei "trotz seiner Bedeutung noch immer nicht so bekannt, wie er es verdient hätte", so Mayen Beckmann, Vorstandsvorsitzende der Gesellschaft für Moderne Kunst.
"Fragen der Identität im Kontext von Gender, Klasse und Ethnie sind in den Zeichnungen, Collagen, Videos und Installationen von Marcel Odenbach seit Jahrzehnten dezidiert Thema", schreibt Susanne Pfeffer, Direktorin des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt am Main und Gastjurorin des Wolfgang-Hahn-Preisträger 2021. "Nicht allein das Eigene, sondern das Andere ist stets der Ausgangspunkt. Experimentell in der Form sowie theoretisch fundiert schafft Marcel Odenbach Werke, die historische Verbindungslinien zwischen Kolonialismus und Globalisierung wie auch die Gewalt des Normativen und der Repräsentation offenlegen und spürbar machen."
Neben Susanne Pfeffer saßen die Vorstandsmitglieder der Gesellschaft für Moderne Kunst in der Jury, darunter Mayen Beckmann, Sabine DuMont Schütte und Yilmaz Dziewior, der Direktor des Museum Ludwig. Der 1985 gegründete Förderverein unterstützt das Museum bei Erwerbungen, Ausstellungen und Projekten. Der Wolfgang-Hahn-Preis wird 2021 zum 27. Mal verliehen, voraussichtlich im November 2021 vor der Kunstmesse Art Cologne. Ihren Namen hat die Auszeichnung von dem Kölner Sammler und Restaurator Wolfgang Hahn (1924-1987).
Im Rahmen der Auszeichnung erwirbt die Gesellschaft für Moderne Kunst für das Museum Ludwig Werke der Preisträgerinnen und Preisträger. Bei Marcel Odenbach sind das die "Schnittvorlagen", "eine Art fortlaufendes Bildarchiv und gleichzeitig aktuelle Arbeitsgrundlage des Künstlers", wie es am Freitag vom Museum hieß. "Das Bildarchiv umfasst aktuell 106 Blätter im Format DIN A3. Jedes Blatt widmet sich einem spezifischen Thema und ist eine Collage zum Teil unterschiedlicher, zum Teil ähnlicher Motive. Diese Motive fand und findet der Künstler in Zeitschriften und anderen Bildquellen, schneidet sie aus und collagiert sie dann zu einer 'Schnittvorlage'. Diese 'Schnittvorlage' wiederum vervielfältigt er, schneidet Motive daraus aus, komponiert neu und koloriert teilweise – aus seinen 'Schnittvorlagen' destilliert Marcel Odenbach also immer wieder neue Werke."
Die bislang noch nie ausgestellten "Schnittvorlagen" werden im Rahmen der Preisverleihung im Herbst 2021 im Museum Ludwig zu sehen sein.