Herr Kretschmer, am 18. Januar wird in Chemnitz das Kulturhauptstadtjahr eröffnet. Nach Jahren intensiver Planung und Vorbereitung wird es also ernst. Steigt da auch in der Landeshauptstadt Dresden die Anspannung?
Michael Kretschmer: Na klar, das ist ja ein gemeinsames Projekt. Wir haben zusammen dafür gekämpft und alles dafür getan, dass die Kulturhauptstadt 2025 nach Sachsen kommt. Den Chemnitzern kommt in diesem Prozess natürlich eine besondere Rolle zu. Ich habe selten so viel Klarheit und Erdverwachsenheit, aber auch so viel ehrliches Engagement gesehen wie in dieser Stadt. Der ganze Prozess hat uns enorm zusammengebracht.
Das Motto, unter dem dieses besondere Jahr in Chemnitz stehen wird, lautet "C the Unseen". Haben Sie als Ministerpräsident während des intensiven Realisierungsprozesses noch Dinge an Chemnitz sehen und entdecken können, die Ihnen nicht bekannt waren?
Ich habe schon lange vor der Bewerbung gesagt, dass es wohl kaum eine Stadt in Ostdeutschland gibt, die sich nach 1989 so stark und so vorteilhaft entwickelt hat wie Chemnitz. Dann gab es 2018 dieses tragische Ereignis um den jungen Mann, der dort während eines Stadtfestes ums Leben kam; es gab die Demonstrationen und die aufgebrachte Stimmung. Dieser Prozess hat mich stark mit der Stadtgesellschaft in Verbindung gebracht. Es hat zu neuen Freundschaften und zu gewachsenem Vertrauen geführt. Chemnitz ist mir zu einer Herzensangelegenheit geworden. Ich bin in Görlitz geboren, ich lebe in Dresden, Leipzig ist für mich stets wie ein Kurzurlaub. All das sind Städte in Sachsen, mit denen ich mich sehr stark verbunden fühle. Aber Chemnitz geht mir wirklich ans Herz. Natürlich entdecke ich dort immer wieder neue Orte und Menschen. Jüngst etwa war ich zusammen mit dem französischen Botschafter in einer mir vollkommen unbekannten Weberei. Das war ein sehr besonderer Ort.
Wie viel Sachsen steckt Ihrer Meinung nach in der immerhin drittgrößten Stadt des Freistaats?
Was meiner Meinung nach in Chemnitz steckt, das geht über Sachsen hinaus. Es ist das Thema Osteuropa. Die Bewerbung startete unmittelbar nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU. Seither ist klar, dass wir Europa zusammenhalten müssen. Und das, was gerade auch Osteuropa der EU gebracht hat, das muss gezeigt werden und eine größere Rolle bekommen. Die Bewerbung von Chemnitz war in dieser Situation wie der Schwamm, der all diese Dinge aufgesogen hat. Deshalb hat Chemnitz am Ende gewonnen, und deshalb wird das auch im Jahr 2025 überall sichtbar werden.
Sichtbar werden soll ja auch das Erzgebirge – also die Region, die Chemnitz umgibt. Wird das der Montanregion und dem Unesco-Welterbe eine neue Bedeutung verschaffen?
Ich denke, das Besondere an der Region Südwestsachsen ist der Gemeinsinn. Das Umland wirkt bei der Kulturhauptstadt 2025 mit gleicher Begeisterung und auf Augenhöhe mit. Das wird vor allem durch den Purple Path sichtbar – einen Skulpturenpfad, der dafür sorgt, dass die Region als Ganzes zusammenbleibt.
Alle warten jetzt auf das kommende Jahr. Was aber ist mit Chemnitz 2026?
Natürlich werden die wichtigen Dinge bleiben. Aber vorangegangene europäische Kulturhauptstädte haben auch auf die Gefahr hingewiesen, dass der besondere Geist des Hauptstadtjahres danach wieder in sich zusammenfallen kann. Da ist es wichtig, dass es eine Energie gibt, mit der es weitergehen kann. 2026 etwa wird es in Sachsen das Jahr der jüdischen Kultur geben, mit dem wir auf eine Tradition von 1100 Jahren jüdischem Leben in Sachsen hinweisen möchten. Dabei wird gerade auch Chemnitz mit seiner jüdischen Gemeinde, seinen großen jüdischen Bürgern – denken Sie nur an die Familie Schocken oder an Stefan Heym – eine wichtige Rolle spielen.