Am Anfang wirkt Günter Krawutschke zurückhaltend. Auf dem Weg in die neue Große Galerie führen die Pressesprecherin des Deutschen Technikmuseums und seine Frau das Gespräch an. Der Berliner Fotograf spricht nur, wenn notwendig. Oben angekommen, steht die Gruppe in dem lang gezogenen, weißen Raum. An den Wänden reihen sich Schwarz-Weiß-Fotos, Wandtafeln und großformatige Abzüge. Die Gesichter der Arbeiter und Arbeiterinnen auf den Bildern ziehen einen magisch an. Dann beginnt Krawutschke durch die Ausstellung zu führen – und scheint wie ausgewechselt. Seine Augen funkeln, wenn er vor einzelnen Werken steht. Alle Aufmerksamkeit gehört ihm.
Günter Krawutschke hatte als Bildreporter der "Berliner Zeitung" zwischen 1971 und 1986 Zutritt zu den sogenannten Volkseigenen Betrieben (VEB). Er sollte ein offizielles Bild der DDR fotografieren. Das waren Aufträge bei Auszeichnungen, Parteitagen und Initiativen in den Industriewerken. Das hinderte den Freigeist aber nicht daran, den Auslöser auch bei anderer Gelegenheit zu betätigen. Bei Reportagen witterte Krawutschke eine besondere Chance. Als angestellter Fotograf konnte er sich Zeit lassen: "Ich muss erst beobachten, mich in den Betrieb reindenken." Die Ergebnisse sind authentische Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die intime und ungeschönte Einblicke in die Alltagswelt der Arbeiter und Arbeiterinnen geben.
Umgeben von seinen Fotografien wird der Berliner zum Geschichtenerzähler. Voll Begeisterung berichtet er von seinem damaligen Berufsleben und dem Arbeitsalltag in den Industriewerken der DDR. Der Fotograf kann fast alle Personen auf den Bildern mit Namen benennen. Krawutschke stoppt vor einem Werk. Es zeigt drei Männer, die sich voneinander abkehren. Laut Krawutschke hält es ein Streitgespräch zwischen dem Meister Schuster und seinen Arbeitern fest. Der Künstler ist stolz, diesen Moment eingefangen zu haben.
Da die Werksleiter selbst keine Zeit für das Modelstehen hatten, haftete sich Krawutschke einfach an ihre Fersen. Er folgte den Personen, bis sie ihren menschlichen Schatten vergaßen. Als ihn die Meister kannten, hieß es irgendwann: "Du kennst doch den Weg." Krawutschke dazu: "Und das war ein Fehler, denn so konnte ich alles fotografieren, was ich sah.“ Andere Personen verwickelte der Reporter geschickt in ein Gespräch und fragte anschließend nach einem Bild. So zum Beispiel bei Lenchen Möller, die noch schnell den Kamm zückte: "Ich muss mich noch schön machen." Günter Krawutschke schoss einfach schon drauf los. Das Ergebnis ist ein Foto ohne jegliche Inszenierung.
Im Gespräch wird deutlich, dass Günter Krawutschke vor allem ein Meister der Beobachtung ist. Vor Ort bemerkt er mit seiner Kamera Kompositionen, die eine subtile Kritik vermitteln können. Eine Aufnahme zeigt in diagonalem Aufbau ein Foto Erich Honeckers an der Wand, einen stehenden Parteichef der SED und sitzend den Generaldirektor Georg Pohler. Alle Führungspositionen in fotografischer Rangordnung entsprechend ihrer politischen Stellung. Ein bemerkenswerter Bildaufbau, der laut Krawutschke bei einer Sitzung im VEB Kabelwerk Oberspree 1977 spontan entstand. Richtig lachen muss der Berliner vor einem Bild, das er nach einer offiziellen Verleihung fotografierte. Während alle anderen Wurstbrote futtern, ist ein einziger Mann damit beauftragt worden, den kleinen Karl-Marx-Orden auf einem Tisch zu überwachen. Der Wächter nahm seine Aufgabe laut Gesichtsausdruck sehr ernst. Krawutschke musste die lächerlich erscheinende Situation einfach ablichten.
Die Fotografien erzählen Geschichten einer vergangenen Zeit und versprühen einen gewissen Witz: Auf dem Porträt von Joseph Kliman in dem VEB Elektrokohle Lichtenberg von 1983 lächeln die Augen des Arbeiters unter seiner Schiebemütze hervor. Direkt im Hintergrund an der Tafel grüßt Lenin mit einer ähnlichen Kopfbedeckung auf einem Bild. Die Buchstaben des Schriftzugs zum 66. Jahrestag der Oktoberrevolution 1983 sind verrutscht. Eine andere Aufnahme zeigt eine Arbeitergruppe bei der Pausengymnastik. Das Foto erinnert ein wenig an Bilder aus Dokumentationen über Nordkorea.
Manche Bilder bedürfen aber auch explizit der Erklärung durch den Künstler: Eine Frau sitzt an der Maschine, die andere hält Früchte in der Hand. Sie unterhalten sich. Krawutschke erzählt, dass die eine Arbeiterin auf dem Foto der anderen von Apfelsinen berichtet. Während es in den Zeiten schlechter Versorgung in der DDR nur Kohl und Konserven gab, konnten die Arbeiter in den betriebseigenen Supermärkten ab und zu seltene Produkte kaufen. Ein anderes Schwarz-Weiß-Foto zeigt eine Halle des VEB Elektrokohle Lichtenberg im Jahre 1985. Krawutschke macht vor allem auf die linke Bildmitte aufmerksam. Sie verdeutlicht, dass die Arbeiter nicht einmal einen geschlossenen Raum als Umkleide hatten.
Der Fotograf wollte durch seine Fotos die Arbeitsbedingungen zeigen. Arbeitsbedingungen, die heute gar nicht mehr möglich wären. Ein anderes Bild bildet einen Mann vor genau diesen Umkleiden ab. Als es in einer der Kunstausstellungen in Dresden gezeigt wurde, protestierte der Betrieb. Es zeigte nicht die Arbeit, die der Ideologie des Bauern- und Arbeiterstaates der DDR entsprach. Trotz der Einwände gestand Willi Sitte, Präsident des Verbandes Bildender Künstler in der DDR, dem Werk die künstlerische Freiheit ein. Aber danach durfte Krawutschke nicht mehr ohne Begleitung durch die Werkhallen. Ein paar der ausgestellten Fotos legte Krawutschke seinem Verlag von vornherein nicht vor; andere wurden aus Parteigebundenheit abgelehnt. Es war ein permanentes Spiel zwischen künstlerischer Freiheit und politischer Meinung.
Krawutschkes Aufnahmen rufen heute bei vielen Menschen Erinnerungen hervor. Ein Mann, der beim Aufbau der Ausstellung mitgeholfen hat, deutete auf eine der Fotografien: "Hier hab ich gearbeitet!" Die Bilder sind Zeitdokumente. Manche Menschen unserer Zeit haben sie noch miterlebt, andere nicht mehr. "Doch die Betrachter sagen weder, dass die Zeit furchtbar gewesen sei, noch, dass sie sie zurück haben wollen. Die Leute richteten sich ein. Man hatte ja auch keine andere Chance."
Mit der Ausstellung widmet sich das Museum das erste Mal umfangreich dem Thema der Arbeit. Joseph Hoppe, stellvertretender Direktor des Deutschen Technikmuseums: "Als ich die Bilder von Günter Krawutschke gesehen habe, wusste ich: Die gehören ins Technikmuseum." Eigentlich wollte Krawutschke die offiziellen Aufnahmen für die "Berliner Zeitung" nicht in der Ausstellung zeigen. Aber da es sich nicht um ein kunsthistorisches Haus handelt, muss der Zusammenhang zur Technik bewahrt werden. Zudem erlaubt die Präsentation eine gelungene Gegenüberstellung mit den künstlerischen Fotografien.
Bis auf einen Betrieb sind heute alle ehemaligen Werke der VEBs geschlossen. An den Orten befinden sich Luxuslofts, asiatische Supermärkte oder Grünflächen. Krawutschke ist unbeabsichtigt zum Chronisten einer Wirklichkeit geworden, die heute nicht mehr existiert. Zu der Idee, Vorher-Nachher-Bilder von den Orten zu machen, meint der Fotograf: "Das ist langweilig und äußerst mühsam. Man findet vieles kaum wieder. Interessanter ist es, das alte Ost-Berlin auf den Fotos festgehalten zu haben und zu zeigen."
Der Berliner ist ein Freund der Veränderungen in der pulsierenden Hauptstadt. Ab den 1980er-Jahren widmet er sich der Architektur. Eines seiner Hauptwerke ist der Wiederaufbau der Alten Synagoge. Dabei ist dem Fotografen wichtig, dass seine Zeitdokumente der Öffentlichkeit zugänglich sind. Die Negative seines Archivs hat er den jeweiligen Institutionen übergeben. Seiner Meinung nach gehört es zur Verantwortung gegenüber dem Aufbau Berlins und der Aufarbeitung der Vergangenheit. Dennoch fällt ihm die Trennung schwer. Verbunden sind damit Erinnerungen und Geschichten, von denen er hofft, dass sie im Gedächtnis bleiben.