Forscher der Polizeiakademien in Hamburg und Niedersachsen wollen den alltäglichen Antisemitismus in der Hansestadt ergründen. Dazu sollen möglichst viele der rund 2300 Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Hamburg befragt werden. Jenseits der Fälle, die bei der Polizei angezeigt werden, gebe es nur lückenhafte Befunde zum Antisemitismus, sagte der Kriminologe Joachim Häfele von der Polizeiakademie in Oldenburg am Donnerstag bei der Vorstellung des Projekts.
Im Rahmen der neuen Dunkelfeldstudie sollen die Teilnehmer angeben, welche Formen von Diskriminierung sie erleben, wie die Sicherheitsbehörden reagieren und welche Reaktionen sie sich wünschten. Aus einer früheren Studie sei bekannt, dass bei vorurteilsmotivierter Kriminalität nur etwa 20 Prozent der Taten angezeigt würden, sagte die Kriminologin Eva Groß von der Akademie der Polizei Hamburg. Die Studie begann offiziell am vergangenen 1. Mai und soll bis Ende April nächsten Jahres gehen.
"Antisemitismus zeigt sich nicht nur in offensichtlichen Hassverbrechen, sondern auch in subtileren Formen des Alltagsrassismus, in Vorurteilen und Stereotypen, die unseren öffentlichen Diskurs beeinflussen", sagte Gleichstellungssenatorin Katharina Fegebank (Grüne). Mit den Ergebnissen der Studie werde die Behörde gezielte Strategien gegen Antisemitismus entwickeln.
Die Hamburger Polizei registrierte seit 2016 jährlich zwischen 35 und 77 judenfeindliche Straftaten, wie aus einem Bericht der Gleichstellungsbehörde hervorgeht. Als Beispiel erwähnt der Bericht zwei Vorfälle bei einer Mahnwache für Israel am 4. Juni 2022. Zwei Frauen versuchten demnach, eine israelische Flagge anzuzünden. Während Polizeibeamte einschritten, stieg ein Busfahrer aus seinem Fahrzeug und beleidigte die Teilnehmer der Mahnwache lautstark. Bereits am 18. September 2021 war ein Teilnehmer einer Mahnwache von zwei Jugendlichen angegriffen und schwer verletzt worden.
Mauricio Dessauer von der Jüdischen Gemeinde Hamburg betonte, Antisemitismus sei kein jüdisches, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem. Er sei in allen Gesellschaftsschichten fest etabliert, nicht nur in muslimischen und rechtsradikalen, sondern auch in der sogenannten bürgerlichen Gesellschaft sowie in linken und sozialen Kreisen.
Die Gemeinde hoffe, dass die Ergebnisse der Studie dazu beitragen könnten, das Problem zu verstehen und die Lebenssituation der Juden zu verbessern. Dabei sei klar: "Antisemitismus ist irrational. Ich habe mich immer gefragt: Was habe ich eigentlich getan, um verfolgt zu werden?" Er habe nie eine Antwort gefunden, sagte der Sohn von Holocaust-Überlebenden.
Befragt zur Berufung zweier Mitglieder des indonesischen Documenta-Kuratorenkollektivs Ruangrupa als Gastprofessoren an die Hamburger Hochschule für bildende Künste (HFBK) erklärte Fegebank, es habe sehr intensive Debatten gegeben. Alle seien sich einig gewesen, dass die Distanzierungen und Entschuldigungen für antisemitische Darstellungen auf der Kunstausstellung in Kassel viel zu spät und halbherzig gekommen seien. "Emotional sehr anstrengend war, in diesem Spannungsfeld auf der einen Seite den Anspruch, keinen Fußbreit dem Antisemitismus, und auf der anderen Seite ein in der Verfassung verankertes Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit, auf Kunstfreiheit - wenn man überhaupt so sagen kann - in Einklang zu bringen", sagte die auch für die Hochschulen verantwortliche Senatorin.
Kurz nach der Eröffnung der Documenta im Juni 2022 war eine Arbeit mit antisemitischer Bildsprache entdeckt worden. Das Banner "People's Justice" des indonesischen Kunstkollektivs Taring Padi wurde daraufhin abgehängt. Später lösten weitere als antisemitisch interpretierte Kunstwerke scharfe Kritik und Forderungen nach einem Abbruch der Schau aus. Im Oktober hatten die beiden Ruangrupa-Mitglieder Reza Afisina und Iswanto Hartono ihre Gastprofessuren in Hamburg angetreten.
Der Hamburger Antisemitismus-Beauftragte Stefan Hensel sagte, in der jüdischen Gemeinde wirke das Gefühl, alleine gelassen worden zu sein, nach. "Das ist nach meinem Verständnis auf jeden Fall ein negativer Meilenstein in Hamburg." Dessauer sagte, die jüdischen Gemeinschaft sei tief betroffen von dem Vorgang. "Die Zukunft wird zeigen, ob die HFBK gelernt hat", fügte der Vertreter der Jüdischen Gemeinde Hamburg hinzu.