Unter dem Titel "We Still Need to Talk: Hin zu einer relationalen Erinnerungskultur" sollte Anfang November eine Konferenz über den deutschen Umgang mit dem Holocaust und eine instersektionale Perspektive auf die Verbrechen des Nationalsozialismus in Berlin stattfinden. In einer Ankündigung, die inzwischen nicht mehr online ist, hieß es, die Veranstaltung wolle "zum Nachdenken über die miteinander verwobenen Geschichten verschiedener Opfer des Nationalsozialismus anregen, die Beziehung zwischen dieser Gewalt und anderen traumatischen Geschichten Deutschlands untersuchen, die Ethik und Ästhetik des Umgangs mit dem Leiden anderer ergründen und versuchen, die Beziehung zwischen Antisemitismus und anderen verbreiteten Formen des Hasses angesichts der zunehmenden Normalisierung rechter Ideologie im politischen Diskurs in Deutschland und darüber hinaus besser zu verstehen."
Als Kuratoren traten die Künstlerin Candice Breitz und der Literaturwissenschaftler Michael Rothberg auf, die Kulturwissenschaftlerin Peggy Piesche und die Historikerin Iris Rajanayagam wurden als Partnerinnen bei der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) genannt.
Diese Institution, die beim Bundesinnenmisiterium angesiedelt ist, hat das Symposium nach dem Terroranschlag der Hamas auf Israel und den darauffolgenden israelischen Angriffen auf den Gazastreifen jedoch nun abgesagt. Auf Monopol-Nachfrage heißt es von der Bundeszentrale für politische Bildung, man greife Themen "in ihrer ganzen Kontroversität" auf und habe mit der Veranstaltung eine in der Wissenschaft teils erbittert geführte Diskussion um "Verflechtungsgeschichte" weiterführen wollen.
"Nicht in der Lage, diese Debatte konstruktiv zu führen"
Allerdings sei das nach dem 7. Oktober, dem Tag des Hamas-Anschlags auf Israel, vorerst nicht mehr möglich. "Es ist eine Zeit der Trauer und unserer Solidarität mit Israel und den Opfern", schreibt ein Sprecher. "Diese Absage haben wir proaktiv ausgelöst, in der derzeitigen Situation sehen wir uns nicht in der Lage, diese Debatte konstruktiv zu führen und zu moderieren, um das angestrebte Bildungsziel in einer sachlichen und respektvollen Weise zu erreichen. Zu einem späteren Zeitpunkt stellen wir uns der Debatte nochmals neu."
Künstlerin Candice Breitz kritisiert die Entscheidung scharf. Auf Monopol-Anfrage schreibt sie, dass sie und Michael Rothberg "stark gegen die Absage des Symposiums" gewesen seien und "keine Rolle" dabei gespielt hätten. Außerdem verwies sie auf ein Statement bei Facebook. Darin heißt es: "Wir halten es für kurzsichtig und bedauerlich, ein Symposium abzusagen, das die Diskussion über entscheidende Fragen im Zusammenhang mit Völkermord, politischer Gewalt, Antisemitismus, Rassismus und der Stärkung intersektionaler Solidaritäten in den Mittelpunkt stellen sollte, und das genau zu dem Zeitpunkt, an dem solche Gespräche - so schwierig sie auch sein mögen - notwendiger und dringender denn je sind."
"We Still Need to Talk" hätte nach Angaben von Breitz "fast 40 Rednerinnen und Redner - Wissenschaftler, Journalistinnen, Kuratoren, Künstlerinnen sowie Aktivisten zusammengebracht, die über fundiertes Fachwissen in Bezug auf das Verständnis und die Auseinandersetzung mit Gewalt, Vorurteilen und Ungleichheit sowohl im Kontext der Gegenwart als auch der Vergangenheit verfügen. Es ist eine bittere Ironie, dass unsere Redner daran gehindert wurden, in einer Zeit schrecklicher Gewalt in Palästina und Israel sowie angesichts einer damit zusammenhängenden und eskalierenden Krise des öffentlichen Raums in Deutschland selbst einen öffentlichen Dialog zu führen."
Der Titel der Veranstaltung spielt auf die Gesprächsreihe "We Need To Talk" vor der Documenta Fifteen an, bei der "die Rolle von Kunst und Kunstfreiheit angesichts von wachsendem Antisemitismus, Rassismus und zunehmender Islamophobie" diskutiert werden sollte. Diese wurde jedoch abgesagt, nachdem der Zentralrat der Juden eine unausgewogene Besetzung kritisiert hatte. Außerdem wurde dem indonesischen Kuratorenkollektiv Ruangrupa und anderen Teilnehmenden der Weltkunstschau schon vor der Eröffnung der Ausstellung Israelfeindlichkeit und Antisemitismus vorgeworfen.
Michael Rothberg, Inhaber des Samuel-Goetz-Lehrstuhls für Holocaust-Studien an der University of California in Los Angeles hatte sich ebenfalls in die Documenta-Debatte eingeschaltet. In seinem Konzept der "multidirektionalen Erinnerung" vertritt er die These, dass in einer globalisierten Welt nötig sei, den Holocaust in Relation zu anderen Verbrechen wie der Sklaverei oder dem Kolonialismus zu diskutieren und eine Erinnerungskultur zu etablieren, die verschiedene Opfererfahrungen würdigt. Rothberg wird jedoch auch kritisiert, damit die Singularität der Shoah infrage zu stellen oder sie sogar zu relativieren.
Nach dem Anschlag der Hamas wurde dem Kunstbetrieb wiederholt mangelnde Solidarität gegenüber Israel der Opfer des Hamas-Anschlags und einseitige Parteinahme für die Palästinenser vorgeworfen. Dazu kommentierte die Bundeszentrale für Politische Bildung: "Sämtliche Positionierung der Teilnehmenden [von "We Still Need To Talk"], die nach dem 7. Oktober, erfolgt sind, konnten wir nicht antizipieren und distanzieren uns ausdrücklich von denen, die sich hier nicht klar gegen den Terror der Hamas positionieren."