So überraschend der Berliner Kultursenator Joe Chialo Ende Dezember seine "Antidiskriminierungs-Klausel" vorgestellt hatte, so überraschend ist das Papier nur vier Wochen später wieder vom Tisch: In einer am gestrigen Dienstag veröffentlichten Mitteilung gab die Kulturverwaltung bekannt, dass die Vergabe von Kulturfördermitteln nicht mehr an ein Bekenntnis gegen Antisemitismus und andere Formen der Diskriminierung gebunden sein soll. Eine entsprechende Regelung werde "ab sofort keine Anwendung mehr finden".
Er werde sich "weiter für die diskriminierungsfreie Entwicklung der Berliner Kultur einsetzen", sagt Chialo darin. "Ich muss aber die juristischen und kritischen Stimmen ernst nehmen, die in der eingeführten Klausel eine Beschränkung der Kunstfreiheit sahen."
Offenbar war der Druck auf Chialo in den letzten Wochen zu groß geworden: Kulturrat und Künstlerverbände, Kreativwirtschaft, freie Szene und Akademie-der-Künste-Mitglieder wie Wolfgang Tillmans und Hito Steyerl kritisierten die Maßnahme ebenso wie Verfassungsrechtler und Historikerinnen. Auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth äußerte sich zurückhaltend zum Berliner Vorhaben und plädierte für ein gemeinsames Vorgehen von Bund und Ländern im Kampf gegen Antisemitismus. Warum Chialo das Gespräch mit Experten und Interessenvertretungen nicht vor Einführung seiner Klausel gesucht hat, wird ein Rätsel bleiben.
Bekenntniszwang ist genauso kontraproduktiv wie Boykott
Chialos Plan mag gut gemeint gewesen sein, doch seine überstürzt vorgestellte Maßnahme könnte dem dringend benötigten Kampf gegen Antisemitismus einen Bärendienst erwiesen haben. In den Diskussionen der vergangenen Wochen haben sich die Fronten weiter verhärtet. Die internationale Boykott-Kampagne "Strike Germany" rief unter Bezug auf die Klausel dazu auf, deutsche Kulturinstitutionen zu bestreiken, es gab Absagen bei der Berlinale und beim Festival Transmediale, der Portikus Frankfurt schloss eine Ausstellung, nachdem die Videokünstlerin Maryam Tafakory ihre Teilnahme zurückgezogen hatte.
Grund zur Häme über das politische Eigentor des Senators besteht schon deshalb nicht, weil die Sache viel zu ernst ist. Es ist anerkennenswert, dass Chialo die Kritik angenommen hat und zurückgerudert ist; das Eingestehen von Fehlern ist in der derzeitigen Debattenkultur eine Seltenheit. "Die Debatten brauchen wir jetzt mehr denn je, und es ist Zeit zu handeln – daran besteht für mich keinerlei Zweifel. Den Diskurs fordere ich ein und baue auf eine überparteiliche Zusammenarbeit", schreibt der Senator. Bekenntniszwänge sind dabei genau kontraproduktiv wie Boykottaufrufe.