Er war Jurypräsident der ersten Berlinale im geteilten Berlin: 1962, ein knappes Jahr nach dem Mauerbau, leitete der Hollywoodregisseur King Vidor die Bärenjury. Gina Lollobrigida war damals auch Festivalgast; Vidor hatte mit dem italienischen Star seinen letzten Film für das Studiosystem gedreht, "Solomon and Sheba" (1959). Der unter Schwierigkeiten fertiggestellte Bibelschinken (der mitten im Dreh verstorbene Tyrone Power musste durch Yul Brynner ersetzt werden) zählt zu den 35 Filmen der diesjährigen Berlinale-Retrospektive. 54 Spielfilme hat Vidor zwischen 1919 und 1959 in Hollywood gedreht. Regie war für den 1894 geborenen Texaner der "Kanal, durch den ein Film die Leinwand erreicht". Er war ein besessener Filmemacher, aber keiner, der nur seine ureigensten Obsessionen verfilmen musste – wie Ford, Hawks oder Hitchcock.
Von der Stummfilmzeit bis zum Ende der goldenen Hollywoodära hat Vidor die unterschiedlichsten Geschichten in diversen Genres erzählt. Doch bei aller Vielfalt seiner Formen und Sujets ließ ihn das Thema der amerikanischen Klassenverhältnisse nicht los. Wie kaum ein anderer Regisseur hat sich Vidor den Details alltäglicher Arbeit gewidmet. Sein stummes Meisterwerk "The Crowd" (1928) ist die Tragödie eines Mannes, dessen "amerikanischer Traum" platzt – das wohl pessimistischste Werk des Regisseurs, der seine Heldinnen und Helden später eher belohnte, wenn ihre Arbeitsmoral hoch war.
"Hallelujah" war 1929 sein erster Tonfilm – und die erste große Studioproduktion mit ausschließlich schwarzen Darstellern. "Hallelujah" ist fast ein Musical, sein Exotismus wirkt heute problematisch, andererseits wird die Geschichte um einen Baumwollpflücker, der zwischen sexueller Leidenschaft und Frömmigkeit schwankt, mit Empathie und Komplexität erzählt. "Our Daily Bread" (1934) würdigt die Anstrengungen einer Kommune von Farmern während der Großen Depression. "An American Romance" (1944) erzählt von einem Stahlarbeiter, der zum Industriemagnaten aufsteigt. Man sieht der Technicolorproduktion an, dass Vidor empfindliche Schnitte hinnehmen musste. Atemberaubend, eine gigantische Fabrikkulisse mit Flüssen aus geschmolzenem Stahl.
Die Aufgabe, Kirk Douglas das "leichte Grinsen" auszutreiben
Alle sechs Farbfilme von Vidor sind in der Retrospektive zu sehen, darunter die Western "Northwest Passage" und "Man Without a Star" von 1955, in dem der kürzlich verstorbene Kirk Douglas als Cowboy in einen Konflikt um Weideland hineingerät. Vidor hatte Mühe, seinem Hauptdarsteller das "leichte Grinsen" auszutreiben, das den Regisseur störte. "Es wirkte, als würde er alles sehr leicht nehmen", sagte Vidor. Seine Figuren mussten für ihre Ziele kämpfen, was man ihnen unbedingt anmerken sollte. Besonders in Vidors Melodramen traten starke, zielstrebige Frauenfiguren auf, auf dem Berlinale-Programm stehen Filme, die nach ihren Heldinnen benannt sind wie "Stella Dallas" (1937) mit Barbara Stanwyck und "Ruby Gentry" (1952) mit Jennifer Jones.
Vidors Frauen seien "sicher, mutig und unternehmungslustig", schreibt Festivaldirektor Carlo Chatrian in einem Berlinale-Blog (zum Katalog hat er einen schönen Aufsatz über das Motiv des Wanderns bei Vidor beigesteuert). Die Männer in seinen Filmen brauchten "immer einen Anstoß, der sie in Bewegung setzt; sei es eine Begierde oder Besessenheit, ein Zu- oder Unfall. Bewundernswert ist die Art, wie sie darauf reagieren: Als wären sie daran erinnert worden, dass die Realität, so chaotisch, brutal und absurd sie auch sein mag, immer auch eine Gelegenheit ist, das, was ihnen versprochen wurde, zu erreichen."
Die Egomanen und der Fortschritt
Ins Absurde gesteigert wird Vidors Idealismus in "The Fountainhead" (1949) nach dem Roman der marktradikalen Autorin Ayn Rand. Gary Cooper spielt einen – an Frank Lloyd Wright angelehnten – egomanischen Architekten, dessen Visionen modernen Bauens bei seinen Zeitgenossen auf wenig Gegenliebe stoßen. Zum ohnehin hervorragenden Begleitbuch hat der Künstler Heinz Emigholz einen starken Essay über "The Fountainhead" beigesteuert. "Als experimentelles Meisterwerk des kommerziellen Films", schreibt Emigholz, "zu seiner Zeit ein Flop und heute in Vidors und Coopers Filmografien so gut wie gelöscht, erzählt der Film, bewusst oder unbewusst, die Kehrseite einer Mythenbildung. Was als demokratisches Bauen antrat, endet in verbiesterter Egomanie (…) Häuser werden als Denkmäler einer verschrobenen Liebesunfähigkeit errichtet und fristen eine Existenz als Autografen des Architekten." (In der neuen Berlinale-Sektion Encounters wird Emigholz’ Film "Die letzte Stadt" vorgestellt, ein Dialog um Architektur, Liebe und Krieg.)
Zu den Juwelen der Retrospektive zählt der opulente Technicolor-Western "Duel in the Sun", in dem Jennifer Jones und Gregory Peck ein voneinander besessenes Liebespaar spielen. Es war der "allererste Film, den ich gesehen habe", erzählt Martin Scorsese in seinem Katalogtext. Dort prägt der US-Regisseur den Begriff "Dynamismus", der für ihn am besten auf Vidors Schaffen passe, "weil alles darin lebt – die Menschen, aber auch die Landschaften, die Materialien, die Maschinen, die Gebäude, die Straßen … alles ist im Begriff zu einer großen Woge menschlichen Fortschritts zusammenzukommen." In unserer Zeit der "Verschwendung, Ausbeutung und Heuchelei", so Scorsese weiter, sei diese Fortschrittsgläubigkeit kaum mehr vorstellbar. Umso spannender wird es auf der Berlinale sein, diese Epoche mit den Filmen King Vidors noch einmal an sich vorbeiziehen zu lassen.