Künstler Kevin Kemter

"Müll ist die perfekte Collage"

Larissa Kikol schaut in ihrer Monopol-Kolumne auf "Hidden Masters" jenseits der etablierten Institutionen. Hier spricht sie mit dem "Tatort-Forensiker" Kevin Kemter, der in seinen Müllräumen die Reste der Stadt sichtbar macht

Kevin Kemter, Ihre Ausstellungsräume, wie "Blendhelme+Taubenhoehle+Lidl" (2019) gleichen Messie-haften, urbanen Wunderkammern. Was taucht da alles auf, und von welchen Orten stammen die Fundsachen?

Ich mag Müll. Schon immer. Mein Kinderladen-Erzieher in den 80er-Jahren nannte mich "Kevin Krempel", weil ich lieber mit Müll im Gebüsch neben dem Spielplatz gespielt habe und nicht mit den Anderen auf dem Spielplatz. Müll ist die perfekte Collage. Immer überraschend. 

Inwiefern?

Sachen aus verschiedenen Kategorien sind erstmals eine Kategorie. Immer ein schöner Startschuss zum assoziativen Denken. Was ist geschehen, dass ein Hammer, eine Lachgaskartusche, ein "Durstlöscher" und ein Kontoauszug von Heikedine Köhler jetzt da im Gebüsch zusammen kuscheln? 

Und wie wird dieser Müll zu Kunst?

Zu großen Teilen beziehen sich meine Räume auf solche, die es in echt gibt. Architektonische Nicht-Orte, also kontrollfreie Räume jenseits des autoritären Blicks, die von bestimmten Gruppen aufgesucht werden und die da jeweils ihre Spuren hinterlassen. Kinder, Vandalen, Kupferkabeldiebe, Ladendiebe, Prostituierte, Obdachlose, Prospektboten, Drogensüchtige und andere. Die Spuren dieser Leute sind aufgeladen mit menschlichen Sehnsüchten. Auch mit Grenzüberschreitungen. Erst spiele ich Tatort-Forensiker, später collagiere ich mit den Artefakten meine Räume. Spritzen, Glassplitter, Kondome, Flaschen, Schlafsäcke, Diebstahlsicherung, Schlösser, Prospektstapel, geschälte Kabelummantelungen, Einbruchswerkzeug und vieles mehr. Diese Artefakte sind ein Baustein unter weiteren in meinen Rauminstallationen. Sie sind die base sozusagen. 

Ihre Inspiration stammt von diesen vielen Orten, zu denen Sie sich unerlaubt Zutritt verschaffen. Sie kennen Berlin wahrscheinlich besser als die Polizei. Erfahren Sie dort etwas über Kunst oder über das Leben? Trennen Sie beides eigentlich noch?  

Interessante Frage. Ich probiere gerade, "Ästhetik des Asozialen" von Steffen Zillig zu lesen und bin irritiert über seine Trennung. Ich bin aber auch erst auf Seite 76, vielleicht kommt ja noch was. Nein, ich gehöre zum "Tribe der Tagger",  und wir sind "City Natives". Wir balancieren geschmeidig durch alle Räume, passen uns Gegebenheiten an und greifen sofort schamlos und gierig zu, sobald sich die erste Gelegenheit auftut. Wir unterscheiden schon lange nicht mehr. Ein Satz, ein Witz, ein Fundstück, ein Fotomotiv, ein architektonisches Detail, eine geschriebene Botschaft, ein Provisorium, ein Grenzübertritt, alles ist gleichwertig interessant, alles ist gleichwertig Kunst für uns. Nur nennen wir es flavor oder vibe. Trotzdem ist der Ausdruck, den ich für am kraftvollsten halte, die sogenannte Outsider Art und nicht die institutionelle Kunst. Es muss zum Selbstzweck gemacht werden, andere Motivationen waren schon immer verwerflich.

Sie haben auch eine Sammlung von Ausweisen. Woher kommen die?

Aus einer Ritze am S-Bahnhof XY, wo Diebe sich der Geldbörsen ihrer Opfer entledigen. Ich ernte da einmal im Jahr deren aufgequollene, ausgeräumte Reste ab.

Dort liegen auch Ihre Zeichnungen wild verteilt auf dem Boden. Es sind Reproduktionen, oder? Werden Ihre Zeichnungen dann zu Readymades? Oder zu Fundstücken, die auch von anderen Autoren stammen könnten?

Als Zeichner bin immer auf der Suche nach alternativen Display-Situationen. Es ist für mich eine Herausforderung, meine Zeichnungen und Räume zu verbinden. Ich weiß, dass sich meine Zeichnungen in der direkten Nachbarschaft zu den Artefakten aus den kontrollfreien Räumen wohl fühlen. Sie wollen chillen mit den krassen Sachen.

Worum geht es in Ihren Zeichnungen? Sie sind sehr bunt, zeigen für mich verschränkte Landschaften aus Stadt und Natur, manchmal in erotischen Formen. Sind sie geheime Stadtpläne?

Oh, ich bin heilfroh, dass ich mein Zeichnen habe, es ist meine einzige Entspannung. Zeichnen geht nur ehrlich. Kein Rumretuschieren und Überdecken wie in der Schummel-Malerei. Das Misslungene, sollte es überhaupt existieren, bleibt sichtbar, und man muss damit umzugehen lernen. Nichts kann unter den Teppich gekehrt werden. Sehr sportlich.  

Leistungssport oder Hobby?

Das eigene Formenvokabular wird abgestottert. Fantasie im Viereck. Der noch unbekannten Formen-Lösung auf der Schliche. Röntgenbilder der inneren Verfassung. Alles folgt hier meinen Regeln, und die sind angenehm unlogisch. Auf die Initialform wird geantwortet: in einer Reaktionskette, bis alles voll ist. Zeichnerisch ausgelotet werden soll, wo eigentlich der Kipppunkt ist, wo sich unschuldig Anmutendes ins Fratzenhafte verzerrt. Wann wird Naivität abstoßend? Diese Grenze interessiert mich, und die Forschung geht weiter. Glücklicherweise haben wir uns ja darauf geeinigt, Kategorisierungen zu vermeiden, weil wir gelernt haben, dass Benennung das Geheimnis tötet und eingrenzt. Dieses Labeln entzaubert jede namenlose Tätigkeit und ist immer der Startpunkt von "Popisierung" und Marktvereinnahmung. Meine liebsten Interviews meiner künstlerischen Idole sind ihre abgelehnten. Wäre ich aber gezwungen, eine Verschlagwortung zu meiner zeichnerischen Arbeit vorzunehmen, wäre es wahrscheinlich so etwas wie: Neo-Surrealer-Manga-Acid oder so ähnlich. Also, hier habt ihr was.

Das Ganze fand in Chemnitz statt. Wie war Ihr Aufenthaltsstipendium dort?

Schrecklich. Eine Mischung aus Angst und vorauseilendem Gehorsam ist das Grundgefühl in Sachsen. Verständliche Frustration äußerst sich unverständlicherweise in einem Treten nach unten und nicht, wie es idealerweise sein sollte, in einem Aufbegehren nach oben. Meiner Meinung nach soll das Bundesland von Helikoptern aus mit Beton übergossen werden.

Ihre Ausstellung "Blendhelme+Taubenhoehle+Lidl" ist ja kaum als Kunstausstellung erkennbar, wäre das nicht angegeben und ausgeschildert worden. Auch realisieren Sie solche Räume manchmal illegal in leerstehenden Häusern. Lösen Sie hier den Begriff der Kunstausstellung auf? Oder testen seine Grenzen aus? Was bedeutet eigentlich die Idee einer Ausstellung für Sie?

Wenn uns die großen Ausstellungshallen verwehrt bleiben, organisieren wir uns Zugang zu Beton-Katakomben im Untergrund und verwirklichen da Ideen. Es ist mir egal, wo. In erster Linie möchte ich Ideen verwirklicht sehen. Einfach einen ausdrucksstarken Raum arrangieren, Geisterbahnen bauen. Im legalen Raum kriegen wir Geld für Material, und vor allem kriegen wir unser Material hinterher wieder oder verkauft. Das ist gut. Im illegalen Raum muss man nix absprechen und niemanden überzeugen, wir können spontan und intuitiv arbeiten und müssen später nix aufräumen oder wegputzen. Das ist auch sehr gut.

Der Discounter Lidl ist ein roter Faden. Oder eher ein Gespenst, das Sie immer wieder heimsucht? Sie sprachen in diesem Zusammenhang auch mal von paranoider Beobachtung. Wie ist Ihr Verhältnis zu Lidl?

Lidl ist für mich eher ein Platzhalter für eine sehr intensive Beobachtung. Es macht Spaß. Ich habe mich entschlossen, Lidl so lange unters Mikroskop zu legen, bis es spooky wird, und das ging schnell. Anschließend bin ich mit dem Fahrrad zu allen 130 Berliner Filialen gefahren und habe versucht, den schlechten Vibe, der von Lidl ausgeht, fotografisch einzufangen. "Ghost Busters"-Staubsauger.

Oft hängen an Ihren Wänden Plastikfolien wie von Müllsäcken, Aluminiumfolie mit Haarbündeln oder Zeitungen. Auf den Böden liegen Kinder-Autoteppiche, mit Glasscherben darauf. Erzeugen eher die Materialien die Atmosphäre oder ihre Konnotation? Sind ihre Räume sinnlich konzipiert oder konzeptuell?

Ich verwende Materialien, die auf mich beklemmend wirken. Zum Beispiel das hypermaskuline Camouflage-Muster. Ich arrangiere die einzelnen Komponenten wie "Anxiety-Signale". Es ist möglich, sich Materialien einzuverleiben, sodass sie ihren Schrecken verlieren und man ab dann eher in einer Art Komplizenschaft zu ihnen steht. Es fühlt sich nach Emanzipation an, denn wenn ich selbst die Geisterbahn aufbaue, habe ich keinen Schiss mehr vor ihrem Spuk. Auch beim Graffiti ging es neben 1.000.000 weiteren Gründen immer darum, gegen eine "Spirit Killing Architecture" anzukämpfen. Es hat also Tradition.

Was genau ist diese geisttötende Architektur für Sie? Und was sind positive Gegenbeispiele? In welcher Architektur fühlen Sie sich wohl?

Wenn einem einzig die Parkbank bleibt, auf der man verweilen und sich mit Mitmenschen austauschen kann, ohne zum Konsum oder Weitereilen gedrängt zu werden, wenn man sich sonst überall fürs grundlose Verweilen rechtfertigen muss, befindet man sich aller Wahrscheinlichkeit nach in "Spirit Killing Architecture". Nur habe ich mittlerweile eine Art Stockholm-Syndrom zu ihr entwickelt und liebe ihre Härte und Funktionalität. Fetisch. Trotzdem kann die städtische Oase nur die Brache sein. 

Sie haben an der Kunsthochschule Weißensee studiert, aber sich auch viel auf der Straße herumgetrieben, gesprayt, ausgekundschaftet. Hat die Straße oder die Hochschule Sie mehr gelehrt?

Ich bin als Teenager ohne Abi an der Kunsthochschule angenommen worden. Da war alles voller Kids aus Wess-Land mit großen Berlin-Erwartungen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt aber bereits Straßen-Fame und habe in jugendlicher Manier auf die Atelier-Leinwand-Leute herabgeschaut. Ich habe etwas länger gebraucht, bis ich die künstlerischen Positionen mit leiseren Tönen und feinerem Ausdruck mancher Kommilitonen zu schätzen gelernt habe. Aber den gesellschaftlichen Status eines Kunststudenten liebte ich von Anfang an. Alles war legitim. Im Gebüsch hocken und einen Müllhaufen fotografieren war legitim. Man ist ein verrückter Kunststudent. Nach dem Studium, wenn es finanziell nicht klappt, eher weniger. Dann ist man ganz schnell nur noch ein Verrückter.

Wenn Sie es sich wünschen dürften: An welchem illegalen Ort würden Sie am liebsten eine Rauminstallation realisieren?

Illegales kündigt man nicht im Monopol-Magazin an. Ich will MoMA.

Sehen Sie Ihre Arbeiten als urbanen Surrealismus oder Realismus?

Das sind nicht meine Kategorien. Meine Träume finden im Hier und Jetzt statt. Und mein Bett steht in der Stadt. Ich verstehe die Frage nicht.