"So, wie sie hier sitzt, will man wirklich keinen Ärger kriegen mit ihr", meint eine Ausstellungsbesucherin. Katharina Sieverding schafft es offenbar noch heute, kalte Schauer über den Rücken ihrer Betrachter zu jagen: Wenn sie von Selbstporträts unter dem Schriftzug "Art and Capital" scheinbar streng herabblickt, mit cyanblau solarisiertem Gesicht ein gespenstisches Lächeln in den Raum wirft. Oder: Wenn sie selbst nicht im Bild erscheint und stattdessen Aufnahmen der Reichstagskuppel über dem Plenarsaal im Bundestagsgebäude mit einem Bronzemodell des Konzentrationslagers in Sachsenhausen übereinanderlegt und das fotografische Resultat auf meterlanges Hochglanzformat bringt.
"Unwiderstehliche Historische Strömung" heißt die Ausstellung in der DZ Bank Kunstsammlung in Frankfurt, die Werke der 1944 geborenen Düsseldorfer Fotografin aus mehreren Jahrzehnten zeigt. Die ältesten Arbeiten sind von 1973, die jüngsten erst im letzten Jahr entstanden. Wenngleich ihre Themen oft bundesrepublikanische sind, könnte man Sieverding durchaus als eine Künstlerin amerikanischen Zuschnitts verstehen – eine vom alten Schlag, wenn man so will, bevor man auch im äußersten Westen den Universalismus ablegte und nur noch in Partikularinteressen und Gruppen zu denken begann.
Sieverding aber geht es auch heute noch ums große Ganze. Das verteidigen sie und ihre Bilder furchtlos: Stets in XXL, oft catchy bis cheesy wie ein Pop-Song und plakativ eben wie ein Wahlplakat. Man denkt an Pop-Art und wird im Ausstellungsbooklet bestätigt, wo Sieverding die Kino-Leinwand als Referenz für ihren eigenen Bildmaßstab nennt.
Die Möglichkeit, alles zugleich zu sein
Selbstporträts und Politisches, zwischen diesen Säulen bewegen sich Sieverdings Themen. Nur folgerichtig, dass sie in der Fotografie ihr Medium gefunden hat, das offen bleibt für die Überlagerung beider Sphären. In ihrem Billboard-Charakter könnten die Fotografien dabei aber kaum weiter entfernt liegen von denen anderen Maestros des Großformats. Sieverding arbeitet mit ähnlichem Druck, aber unterschiedlichen Mitteln. Statt Slogans hagelt es hier Poesie, aber auch die im Großauftrag: Ein goldstaubverhülltes Selbstporträt sollte schon 1973 die Künstlerin von jeglichen Identitätszuschreibungen befreien.
Nicht das sorgfältig inszenierte Meisterwerk interessiert sie an der Fotografie, sondern überhaupt erst die Möglichkeit, alles oder mehreres zugleich zu sein – weshalb Ausstellungstexte über sie noch heute selten ohne die Formel auskommen, sie hinterfrage und erweitere das Medium permanent. Was so natürlich nicht mehr viel bedeutet, schließlich wird immer und überall alles hinterfragt. Sieverding aber tat dies stets mit den Mitteln der Fotografie selbst, mit dem Rückgriff auf found footage-Material, in der Kombination und Überlagerung von Motiven, im Experiment mit Techniken wie der Solarisation, die nach heutigen Sehgewohnheiten beinahe unfreiwillig komisch anmuten. 1973 war eben an gratis Bildbearbeitungssoftware für die Massen noch nicht zu denken.
Kim Jong-un im Amazon Fulfilment Center
Sieverdings Furchtlosigkeit wirkt entwaffnend gegenüber allerlei Vorbehalten, die man so mitbringen kann: Ist das etwas naive Politkunst oder gerade treffsicherster Bildkommentar, wenn die Fotografin – wieder im Mittel der Überlagerung – das größte syrische Flüchtlingslager in Jordanien mit einem Bild von Technikern zusammenbringt, die einen russischen Jagdbomber zur Bekämpfung der Rebellen in der Region präparieren? Immerhin liegt hier auch eine große Glaubwürdigkeit von Sieverdings Haltung: Im Gegensatz zu vielen Künstlerkollegen, die bekanntlich nicht unbedingt klügere oder bessere Menschen sind als alle anderen, bedient sie nicht nur wohlfeile Positionen, die als mutig gelten, aber ohnehin vom Publikum goutiert werden, sondern sie teilt aus einer universell-humanistischen Haltung heraus in mehrere Richtungen zugleich aus.
Ihre Bilder sind groß und laut, aber man kann, oder soll sogar, mit ihnen reden. Es ist zum Beispiel wirklich nicht schwierig, den nordkoreanischen Diktator der Bigotterie zu überführen. Trotzdem verfängt Sieverdings 260 mal 375 Zentimeter dimensionierte "Global Desire I", das Kim Jong-un samt Begleitern aus Pjöngjang nach einem (fiktiven) Besuch im Amazon Fulfilment Center in Arizona zeigt, auch in Zeiten von Internet-Memes noch bestens.