Künstlerin Anna Leonhardt in Berlin

Kann man Unendlichkeit malen?

Was hat Malerei schon mit dem Universum zu tun? In den Arbeiten von Anna Leonhardt in der Berliner Galerie Friese kann man zurzeit sehen, dass beide Sphären sich näher sind, als man denkt

Sich des eigenen Platzes in der Welt sicher zu sein, ist nicht leicht – in verschiedener Hinsicht: kulturell, sozial, politisch. Auch wissenschaftliche Fakten helfen nicht immer. Ein unendliches, sich immer weiter ausdehnendes Universum auf der einen Seite, die Verschränkung von unsichtbaren Quantenteilchen auf der anderen – da kann der Kopf schon mal schwirren.

Ähnlich mag es einem bei der Betrachtung der Ausstellung "Soulva" der deutschen Künstlerin Anna Leonhardt in der Berliner Galerie Friese gehen. Ihre abstrakten Werke bestehen bis auf wenige Ausnahmen aus zwei bildnerischen Ebenen. Im Hintergrund befinden sich horizontal angeordnete Farbbalken in gedeckten Tönen. Verdünnt aufgetragen, verlaufen sie an ihren Rändern leicht ineinander. Im Vordergrund, über die Bildfläche verteilt, finden sich kleinere, dick aufgetragene Farbverläufe. Kondensiert und unverdünnt stehen sie in starkem Kontrast zu dem unscharfen, verwaschenen Hintergrund und treten in eine interessante Wechselbeziehung. Zwar sind sie dieselbe Sache: verschiedene Farben, die ineinander übergehen. Doch sind sie so grundverschieden, dass sich in den Bildern eine unergründliche Spannung aufbaut. Das Auge versucht vergebens, den richtigen Fokus zu finden und die Elemente räumlich einzuordnen. Was ganz ohne Referenzpunkte aber nicht recht funktioniert. 

Abstrakte Kunst zeichnet sich generell dadurch aus, grenzenlose Assoziationen und Interpretationsmöglichkeiten zu bieten. In den Bildern Leonhardts scheint es, als ob die Unendlichkeit tatsächlich Thema sei. Wie ein Längenabschnitt in der Mathematik in unendlich viele Intervalle geteilt werden kann, zeigen auch die Farbverläufe in ihren Bildern eine schier unendliche Palette an Zwischentönen. Dazu kommt die Komponente des Raumes, der sich jeder Einschätzung von Größe entzieht.

Gefangen in der Mitte

Wie schwer das Konzept von Unendlichkeit greifbar ist, beschrieb der französische Philosoph Blaise Pascal im 17. Jahrhundert. Bei seinem Versuch, den Menschen in der Welt zu verordnen, wirft er einmal einen Blick auf das große Ganze – das Universum –  und findet den Menschen in diesem Kontext verschwindend klein werden. Der entgegengesetzte Blick auf die kleinsten Bausteine unserer Welt lässt den Menschen hingegen unendlich groß wirken. In beiden Betrachtungsweisen wird er unbegreiflich – gefangen in der Mitte. In der Begegnung mit Leonhardts Werken spiegelt sich dieses Paradox wider. Einerseits sind sie eine einfache Kombination von physischen Farbpartikeln, auf der anderen Seite eine unendliche Weite von Raum und Farbe. Pascals Überlegungen enden in der Schlussfolgerung, dass eine solche Unergründbarkeit nur durch die Existenz Gottes erklärbar ist. Das muss jeder für sich selbst wissen. 

Bei der Betrachtung von Leonhardts Werken erlangt man neue Erkenntnisse bei der näheren Inspektion. Am Rand der scheinbar perfekten Verläufe sammelt sich überschüssige Farbe. Diese Konzentrationen der Materie, die im Inneren diesen meditativen, transzendenten Eindruck hervorbrachte, sind hier aufgetürmt. Teilweise lassen sich einzelne Ausgangs-Töne erkennen, teilweise mischt sich alles zu einem diffusen Dunkel. Interessant sind auch die seitlichen Ränder der Leinwände, die nicht bemalt sind, sondern nur die rohe Leinwand und Spuren von verlaufener und verspritzter Farbe zeigen.

Dieser Einblick in den Entstehungsprozess ist wie ein kleiner Riss in der Matrix, der einen Blick hinter die Kulisse offenbart und die Konstruiertheit des Gesehenen ein bisschen besser verständlich macht. Obwohl dies eine gewisse Sicherheit in der Betrachtung schafft, mindert es nicht das Wunderbare in Leonhardts Arbeit. Vielmehr ist es ein Anker, um noch ein wenig länger vor den Werken zu verweilen. Oder eine Einladung, den Fokus mehr auf das zu richten, das man verstehen kann, und sich am schönen, unbegreiflichen Rest einfach zu erfreuen.