Timm Ulrichs ist der Igel, der den Jüngeren, den Hasen, wie im Märchen zuruft: "Ick bün al dor!" Machen hieß bei ihm oft: vormachen. Der heute 79-Jährige stellte sich in den 60er-Jahren selbst als Objekt aus, ließ sich tätowieren, nahm sich früh der Laufschrift und der bildgebenden Verfahren der Endoskopie an und spürte in der Serie "Kunst und Leben" Pornofotos auf, bei denen hinter der eigentlichen Aktion ein Kunstwerk hängt. Er hat Spielzeug ins Riesenhafte vergrößert, Assemblagen aus Pattex-Tuben gemacht und damit das Werkzeug zum Gegenstand, einem Betonklotz Antenne und Netzanschluss verpasst als Vorwegnahme von Isa Genzkens berühmtem Weltempfänger und Magnetplatten im Kreis so aneinandergelehnt, dass sie sich durch ihre Abstoßungskräfte selbst halten.
Land-Art, Body-Art, Collage, konkrete Poesie, Lichtarbeiten – der selbsternannte Totalkünstler hat ein Riesenangebot. Während eines Gewitters lief er mit einer sehnsuchtsvoll dem Himmel entgegengestreckten Metallantenne über eine Wiese oder schloss sich stundenlang in einem ausgehöhlten Findling ein. Er hat alles gemacht und alles gegeben.
Aber genützt hat es ihm angeblich nicht: Die großen Erfolge mit internationalen Ausstellungen und unglaublichen Preisen am Kunstmarkt feiern Generationsgenossen wie Georg Baselitz oder Gerhard Richter. Ulrichs registriert jede ihrer Bewegungen und vergleicht sie mit seiner eigenen Rezeptionsgeschichte: Er durchforstet Zeitungen, Rankings und Künstlerlisten, hat einen Ausschnittdienst abonniert, der ihm Artikel zuschickt, in denen sein Name steht. Und beschwert sich in öffentlichen Auftritten gerne, dass die Welt sich nicht für ihn interessiere.
Doch auch wenn er tatsächlich außerhalb Deutschlands einem breiten Publikum unbekannt ist, lieben ihn doch viele jüngere Künstler. Er war 1977 auf die Documenta 6 eingeladen, wird von vielen Museen gesammelt und hat zahlreiche Publikationen veröffentlicht. Peter Weibel vom Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientheorie nennt ihn einen "der größten und protypischsten Künstler des 20. Jahrhunderts".
Im Jahre seines 80. Geburtstags wird Timm Ulrichs von der Berliner Akademie der Künste mit dem Käthe-Kollwitz-Preis 2020 geehrt. Mit der mit 12.000 Euro dotierten Auszeichnung ist auch eine Ausstellung verbunden, die am heutigen Freitag, 24. Januar, am Standort Hanseatenweg eröffnet. Der gebürtige Berliner wird damit für sein Lebenswerk gewürdigt - dieses sei für nachfolgende Künstlergenerationen bis heute Fundgrube und Inspirationsquelle, heißt es in der Begründung der Jury.
Vor genau 50 Jahren bestellte der Totalkünstler schon seinen Grabstein mit einem eingravierten Paradoxon: "Timm Ulrichs, *31.3.1940. Denken Sie immer daran, mich zu vergessen!" Doch das ist gar nicht so einfach - zum Glück!