Roadtrips gehören zur amerikanischen Kultur wie Baseball, Hamburger und Jazz. Jack Kerouac hat dem Unterwegssein 1957 mit seinem Roman "On the Road" ein Denkmal gesetzt, "Easy Rider" hat das Abweichen von der Norm filmisch interpretiert, und auch in der Fotografie ist der Roadtrip spätestens seit Robert Franks "The Americans" ein immer wieder aufgegriffenes Genre. Allerdings mit dem Unterschied, dass Fotografen die Reise eher als Mittel zum Zweck einsetzen, um die jeweils gegenwärtige politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation in den Vereinigten Staaten von Amerika dokumentarisch-visuell festzuhalten.
Insofern reiht sich Justine Kurland mit ihrem Fotobuch "This Train" in eine lange Tradition ein. Und gleichzeitig bricht sie sie komplett auf, nein, sprengt sie womöglich. Denn Roadtrips sind üblicherweise Männersache. Robert Frank, Stephen Shore, Joel Sternfeld, Alex Soth, Taiyo Onorato & Nico Krebs, Mike Brodie oder Thomas Hoepker haben es vorgemacht, Frauen wie Ruth Orkin sind die Ausnahmen.
Hinzu kommt: Kurland ist nicht allein gereist, sondern hatte als alleinerziehende, queere Frau ihren kleinen Sohn Casper dabei. Sechs Jahre lang zogen sie in ihrem umgebauten Van durch die USA. Wir sehen Casper aufwachsen, die Welt oder zumindest das ländliche Amerika erkunden. Sie halten an Tankstellen und an Picknick-Plätzen, sitzen in Diners und am Lagerfeuer. Casper putzt sich am Fluss die Zähne und spielt in einem Entwässerungsrohr. Seine Mutter begleitet ihn, manchmal ist sie mit auf den ausgezeichnet gestalteten, oft beeindruckenden Aufnahmen zu sehen.
Kein Mann, kein Bruder, kein Hund
"This Train" ist ein Roadtrip und ein Familienalbum. Und es ist zugleich das jeweilige Gegenteil. Denn beides ist nicht miteinander vereinbar. Auf der einen Seite gibt es den natürlichen Wunsch nach einem Zuhause, nach Wurzeln und Sicherheit. Auf der anderen Seite das Bedürfnis nach Abenteuer, Abwechslung und dem Unbekannten. "Wir verlassen das eine für das andere", schreibt Constance Debré in ihrem Vorwort, das sie passenderweise "Odyssee" genannt hat.
Sie bezeichnet "This Train" als Anti-Familienalbum, denn auf den Fotos gäbe es keine klassische Familie zu sehen. Keinen Mann, keinen Bruder, keinen Hund. Nur eine Mutter und ihren Sohn, die niemals lächeln. Was für ein Affront gegen das bürgerliche Leben!
Allerdings hat "This Train" noch eine andere Seite – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Denn das Buch ist als doppelseitig bedrucktes Leporello angelegt und wer es in die "falsche" Richtung, also von rechts nach links durchblättert, bekommt ausschließlich Landschaftsaufnahmen zu sehen, die scheinbar unendlichen Weiten des amerikanischen Westens, durch die Güterzüge fahren oder die zumindest von den Gleisen zerschnitten werden.
Die gesamte Gründungsgeschichte eines Landes
Im Stil der "New Topographic"-Bewegung hält Kurland die vom Menschen veränderte Landschaft fest, erweitert den Roadtrip-Gedanken des Individuums auf die gesamte Gründungsgeschichte ihres Landes und verweist zudem auf das Anthropozän: In das Auftauchen der Dampfmaschinen ist auch der Anfang des Klimawandels eingeschrieben.
Doch auch, wenn die beiden Stränge gegenläufig angelegt sind, vermischen sie sich immer wieder: So schaut Casper auf vielen Fotos den vorbeifahrenden Waggons nach oder spielt mit Holzzügen auf seinem Bett im umgebauten Lieferwagen. Und wer die spektakulären Landschaftsaufnahmen durchblättert und dabei die Seiten des Leporellos etwas anhebt, bekommt automatisch einen Einblick in die gegenläufige Geschichte. All das zusammen macht "This Train" zu einem der eindrucksvollsten, vielschichtigsten, intelligentesten und spannendsten Fotobücher des Jahres.