Laurie Anderson über Julian Schnabel

Ich kannte ihn kaum, und dann ...

Laurie Anderson lebte mit ihrem Mann Lou Reed gegenüber von Julian Schnabel. Der Maler half dabei, deren Wohnung einzurichten und begleitete Reed beim Sterben. Die Künstlerin hat ihrem Freund eine einfühlsame Hommage geschrieben

Wer ist Julian Schnabel, der als Maler und Bildhauer ebenso viel Erfolg wie als Filmemacher hat? Der in einer exzentrischen und Palazzo-artigen Residenz in New York lebt und auch schon mal gerne im Pyjama durch die Häuserschluchten streift? Im Taschen Verlag ist jetzt in einer limitierten Sammler-Edition das voluminöse Gesamtwerk des Künstlers erschienen - er hat daran viele Jahre selbst mitgearbeitet.

Er ist ein neugieriger Künstler, ein besonders "hungriger Künstler", schreibt Éric de Chassey in einem begleitendem Essay, in dem der Künstler zwischen, Figuration, Abstraktion, Post-Moderne und Neo-Expressionismus künstlerisch verortet wird - auch wenn immer ein Hauch der Unwägbarkeit mitschwingt. 

Er war ein junger Wilder, der in den 70er-Jahren in New York seine Karriere begann. Berühmt wurde Julian Schnabel vor allem durch seine Teller-Bilder, in denen sich Malerei und Keramik auf schillernde Weise begegneten, die plane Oberfläche der Leinwand durch Spiegelungen immer wieder gestört, verändert und in ein Spannungsverhältnis gesetzt wurde. Eine vibrierende Malerei, die ein ganz eigene Lebendigkeit besitzt.

Den Menschen Julian Schnabel bringt uns vor allem Laurie Anderson in einem einfühlsamen Essay näher. Die Multimedia-Künstlerin lebte mit ihrem Mann, Rock-Ikone Lou Reed, im New Yorker West Village gegenüber von Julian Schnabel, der dabei half, die Wohnräume der beiden in Träume zu verwandeln. Zum Erscheinen des Buches "Julian Schnabel" veröffentlichen wir hier den kompletten Essay online. Aus dem amerikanischen Englisch von Saskia Bontjes van Beek.

 

Jetzt

Es ist Anfang Juni, und die Welt zerfällt in Stücke. Wir unterhalten uns am Telefon über den jüngsten Polizeimord an Rayshard Brooks in Atlanta und die landes- und weltweiten Black Lives Matter-Kundgebungen. Julian schickt mir Gedanken für eine Arbeit zum Thema Verbrechen, darunter Antonin Artauds Text über van Gogh, "Der Selbstmörder durch die Gesell­schaft", mit einer Abbildung von Julians erstem Tellerbild, The Patients mid the Doctots. Wir fragen uns: Was können wir tun?

Es ist Juni 2020 und in New York ist noch immer alles geschlossen. Etliche Läden und Restaurants in unserem Viertel sind mit Brettern ver­nagelt. Viele Leute tragen nach wie vor Masken, und die Aussichten der Stadt schwanken täglich von verhalten positiv bis katastrophal. Mir fällt es schwer, diese Kurzgeschichte über meinen Freund zu schreiben. Ich lasse mich von der Ausnahmesituation immer wieder völlig vereinnah­men. Liegt es an der Pandemie, dass ich das Leben aus der Entfernung wahrnehme, als Panorama verlorener Orte und längst verstorbener Men­schen?

Das Telefon klingelt, es ist Julian, und er liest mir aus seinem Manu­skript "In the Hand of Dante" vor. Die Pandemie dauert an, doch Julian schreibt, überarbeitet Drehbücher, malt. "Ich vermisse Shooter, ich habe ihn seit Monaten nicht gesehen", sagt er und schickt mir ein Video von seinem sechsjährigen Sohn Shooter, der langsam einschläft, während er ihm auf FaceTime vorliest.

In diesem Sommer hat ein neues Gemälde eines großen blinden Mäd­chens keinen lila Streifen über den Augen mehr. Diesmal hat sie gar keine Augen. Wo die Augen gewesen wären, verläuft nur eine lange Narbe. Ich habe das neue Bild vor ein paar Tagen in Julians Freiluftatelier gesehen, das er in Montauk gebaut hat. Das Bild handelt nicht nur von der Blind­heit der Weißen, sondern allgemein von Augen, die man nicht hat. 

Alte Zeiten

Ich muss Julian ungefähr zu der Zeit kennengelernt haben, als er am Whit­ney Independent Study Program bei Ran Clark und Yvonne Rainer teil­nahm. Ich erinnere mich noch an einen Kreis aus Klappstühlen, an Leute, die auf Fensterbrettern saßen, und an intensive Diskussionen über Politik und über abstrakte Ideen wie the edge. Julian war gerade aus Texas einge­troffen und war der einzige Maler im Programm, dem die Behauptung, die Malerei sei tot, nichts auszumachen schien. Er war dabei, New York wieder­zuentdecken, und der andere Teil seiner Ausbildung folgte jede Nacht ab ein Uhr in Mickey Ruskins Max's Kansas City, einer Künstlerbar. Dort wurde der junge Julian über seinen ersten und besten New Yorker Freund, Bob Williamson, in die Welt der bedeutenden New Yorker Künstler eingeführt. Er lernte Robert Smithson, Richard Serra, Willem de Kooning, Blinky Palermo, Brice Manien, Neil Williams, Larry Poons und John Chamberlain kennen, um nur einige zu nennen. 

Wir lebten in unterschiedlichen Welten, ich erholte mich gerade von minimalistischer Skulptur.

Wir umkreisten einander in der Gesellschaft gemeinsamer Freunde - Gordon Matta-Clark und Susan Ensley, Dickie Landry, die Galerien von Leo Castelli und lleana Sonnabend am West Broadway Nr. 420, Trisha Brown, Phil Glass, John Chamberlain, Vito Acconci und Malcolm Morley. Es waren die späten 1970er-Jahre, und New York war wie heute dunkel und geheim­nisvoll. In SoHo wohnten wir in verlassenen Gebäuden - die Zukunft war ungewiss. Die Künstler begannen jedoch, in großen Dimensionen zu den­ken. In sehr großen. Jeder, den ich kannte, schien an einer Oper zu arbei­ten. Man begegnete sich am West Broadway, immer in Arbeitsschuhen und Malkleidern, und fragte: "Was macht deine Oper?" "Alles gut, und deine?" Nur wenige von uns machten wirklich Opern, auch wenn wir sie trotzdem so nannten. Julian war damals einer der Künstler, die völlig neue Maßstäbe schufen, eine eigene Ikonografie, eine seltsame Bildwelt, mit einer unge­heuren Energie. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch keine Galerie, nur wenige hatten seine Arbeit gesehen.

Er malte ein Bild von einem toten Hund auf metallgrünem Grund, daneben die Worte "Zeichne eine Familie". Eines Tages lud er die Galeris­tin Paula Cooper zu sich ein, die nur sagte: "Ich habe bereits einen Hun­demaler in der Galerie." Das war Jonathan Borofsky. Jedenfalls kannte ich Julian damals kaum, aber meinem engen Freund Gordon Matta-Clark waren seine Bilder im Atelier seiner Freundin Susan Ensley aufgefallen, wo Julian arbeitete. Er empfahl ihn Holly Solomon, die als erste ein Bild von Julian in New York ausstellte. Das war einige Jahre später und Julian malte keine Hunde mehr, sondern Jack the Bellboy.

Unsere Wege kreuzten sich hin und wieder, aber erst ungefähr 25 Jahre später, als mein Mann Lou Reed und ich 1989 auf die gegenüberliegende Straßenseite von Julian ins West Village zogen, wurden er und ich richtige Freunde. 

Wir fühlten uns verloren in den bedrohlichen Räumen, die wir in einem ehemaligen Frauengefängnis gefunden hatten. Lou hatte gute Design­-Ideen und suchte einige ungewöhnliche Lampen aus. Er bat Julian um Rat. Julian brachte uns einen Mast, der zu einem Treppengeländer wurde, marokkanische Türen, die ein balkonartiges Schlafzimmer abgrenzten, und wandelte das Wohnzimmer zu einem Shakespeare'schen Innenhof um, mit mehreren Vorhängen aus dickem rotem Samt, die über zwei Stock­werke reichten und sich auf den stillen Hudson River öffneten.

Durch Julians Nachbarschaft fühlten wir uns im West Yillage heimisch. Nach Monaten der Isolation denke ich daran, wie sehr ich es liebte, durch das nächtliche New York nach Hause zu gehen und oben im riesigen rosa­farbenen Palazzo Chupi helle Lichter zu sehen. Ich erinnere mich noch an Julians Modell aus lauter gestapelten Pappkartons für das neue Gebäude. Während es mit seinen Balkons, Arkaden, Zinnenbögen heranwuchs – wie ein fantastisches Märchen –, bewahrte es sich die Aura einer kindlichen Vorstellung von einem venezianischen Palast. Die Nachbarn waren bereit, den Bau zu hassen, bis sie merkten, dass es sich nicht um ein weiteres monströses Condo handelte – wie sie sich in der Nachbarschaft immer mehr breitmach­ten –, sondern eher um eine Art Malerei, eine Vision, die auch ein Gebäude war. Heute ist es ein geschätztes Wahrzeichen. Julian konnte vom Balkon aus Lou zuwinken, der auf unserem Dach seine Tai-Chi-Übungen machte.

"Komm vorbei und schau dir die neuen Bilder an", sagt Julian, und jedes Mal gibt es etwas anderes zu sehen. Mal sind es riesige rote Zeich­nungen auf dem Boden, mal neue Rosen auf zerbrochenen Tellern. Beim nächsten Mal ist es eine Installation mit van Gogh'schen Tellerbildern; auf manchen ist William Dafoe van Gogh, auf anderen ist van Gogh van Gogh. Dann sind da drei Gemälde von Julians Sohn Cy als Velázquez.

Letzten Winter hing in der Lobby ein neues Gemälde, ein Goya: Königin Maria Louisa auf ihrem Pferd, ein digitales Werk des Restaurators Adam Lowe. "Sieh mal", sagt Julian, "es sieht realer aus als das echte. Es hat lau­ter Risse und Schrammen." In der Zwischenzeit gibt er bei Lowe den Cara­vaggio mit einem Baby, das auf einer Schlange steht, in Auftrag. Er hat dem Prado Geld gespendet, um den Goya, eins seiner Lieblingsbilder, neu aufzunehmen. "Falls es je verbrennen sollte, können sie meines haben." 

Die verlorene Stadt ist noch irgendwo vorhanden

Wallse, das österreichische Restaurant an der Ecke, jahrelang unser Lieb­lingslokal, ist vorerst geschlossen. Ich bin sicher, dass es nach der Pande­mie wieder öffnen wird. Julians Bild von Kurt, dem Chefkoch, hängt an der Wand und schaut ins Leere. Ich lasse die unzähligen Nächte bei Kurt, nach einem Konzert oder einer Show, Revue passieren, wie wir alle reden, Strudel essen, trinken, lachen; Lou, ich, Julian, Hal, Freunde, glücklich in der Wärme unserer Freundschaft. Und andere Nächte, wo war es gleich? In einem Steakhouse im West Village, in dem es so laut wurde, dass alle brüllten und Julian plötzlich auf einem der langen Tische stand und sagte: "WENN ALLE DEN MUND HALLTEN, KÖNNEN WIR UNS VIELLEICHT WIEDER VERSTEHEN." Auch wenn das als laut schallende Proklamation vorgetragen war, klang seine Stimme so vernünftig, dass alle verstumm­ten und von ihren Plätzen zu ihm aufblickten. Es dauerte länger, als man denken würde, bis die Lautstärke wieder hochgefahren war. Julian hat die verblüffende Fähigkeit, immer mit ganz normaler Stimme zu sprechen, ganz gleich mit wem. Mit derselben Freundlichkeit, Neugier und Ach­tung begegnet er einem Museumsdirektor oder einem Passanten auf der Straße. 

Montauk

Wann war das? Wir sitzen auf der Bank vor Julians dreiwandigem Frei­luftatelier in Montauk. Es ist ein Nachmittag im Spätsommer, das Licht ist sanft, der Himmel beinahe transparent, ein mildes Blau, das die Augen beruhigt, wenn das Licht sie erfüllt. 

Lou und ich sitzen mit unserem Hund Lolabelle auf einer dünnen eiser­nen Bank, den Rücken zum Pool, den Blick auf das Atelier, in dem Julian malt und redet. Lou ist ganz mitgenommen von den Interferon-Behand­lungen wegen seiner Hepatitis und Lolabelle ganz aufgedunsen von Medi­kamenten gegen dieselbe Krankheit. "Schaut her, was passiert, wenn ich hier einen Strich mache!", sagt Julian, während er auf das Bild zugeht und am Rand eine lange blaue Linie malt. "Seht! Es verändert alles!" Wir sehen es. Wenn man ihm beim Malen zusieht, ist es so, als würde vor unseren Augen ein Film gleichzeitig geschrieben, gedreht, geschnitten und vorge­führt.

Wir beobachten ihn dabei, wie er eins seiner Bilder betrachtet. Und ich denke daran, wie sehr es in seiner Arbeit genau darum geht. Viele seiner Filme handeln von Menschen, die schauen, von Menschen, die sehen, Bas­quiat, Arenas, van Gogh und Jean-Do, aus seinem einen Auge in "Schmetter­ling und Taucherglocke".

Es ist zurzeit schwer, in die Vergangenheit einzutauchen. Warum durch Räume wandern, in denen niemand mehr lebt? Warum die Toten wieder zum Leben erwecken, damit sie dann in unseren Armen wieder in sich zusammensinken? Vielleicht ist genau das der Auslöser, ein Bild zu malen oder einen Song zu schreiben: der Wunsch, diesen Moment festhalten zu wollen, der immer mehr oder weniger der gleiche ist. An der Schwelle zur Ewigkeit. Ein goldener Himmel. Ich denke an "Who Am I?", Lous wunder­schönen Song über Erinnerung und Freiheit, und schon geht es mir besser. "Wenn es falsch ist, darüber nachzudenken/ Die tote Vergangenheit in deiner Faust zu haften/ Warum haben wir dann Erinnerungen? / Lasst uns den Verstand verlieren und frei sein."

Wenn ich an Julian denke, sehe ich ihn vor mir, wie er verschiedene Dinge betrachtet - die Form eines Pinselstrichs, das Licht in einem Raum, die Beugung eines Arms auf einem Gemälde. Wenn ich mir seine Arbeiten angesehen habe, gehen mir danach lauter Fragen und Geschichten durch den Kopf, und dann denke ich an etwas, von dem ich nicht bemerkt hatte, dass es mich beschäftigt. Gibt es so etwas wie Schicksal? Warum ist Identi­tät so fließend? Was machen wir hier überhaupt?

Gründe zu leben

Seit Lous Tod vor beinahe sieben Jahren bin ich immer dabei, furchtbar traurig und gleichzeitig seltsam klarsichtig zu werden. Was treibt uns an? Was lässt uns jeden Morgen aufstehen? Julian zeigt mir, was das Leben lebenswert macht, dank seiner genussbetonten, zielstrebigen und einfach nur unbeschwerten Einstellung zum Leben. Inmitten der Pandemie und zahlloser Absagen der verschiedensten Projekte bin ich mir unsicher, was ich als Atelier benutzen soll. "Häng deine Bilder in die Bäume", sagt er. "Und warte, was dann passiert." Wenn ich an Julian denke, denke ich an Liebe und an die Passion, mit der er alles macht – surfen, kochen, malen, Filme drehen, schreiben, Vater sein, Sohn, Ehemann, Freund. 

Ich mache eine Liste von Dingen, die ich in den Bildern zu sehen glaube: Federn, Pfeile, Flecken auf Fenstern, Diamanten, Schneeflocken, Spulen, Hufe. Dazu Spiralen, Ranken, Amöben, winzige flatternde Fahnen. Kratzer, Schichten von Klecksen, durchscheinende Häufungen, Flecken getrockneten Blutes, an Drähten befestigte Blüten. Es ist schwer, Worte für diese Zeichen zu finden. Da sind noch flatternde Blätter, dichte Ufer­linien, fallende Hülsen, ein in Mumienpapier gewickelter alter Mann, Schlüssel. Und eine Baskenmütze, die auf einen wirbelnden Tornado aus blauer Farbe gefallen ist. Dinge, die sich von Positiv- zu Negativformen ver­schieben. Ein Greif in einem Fez.

Wenn man Julian beim Malen zusieht, sieht man jemanden, der völlig frei ist. Man muss schnell denken, während Bilder auftauchen und unter wei­ßen Pinselstrichen wieder verschwinden. Manchmal übermalt er das Ganze mit weißer Farbe und wäscht dann alles mit einem Gartenschlauch ab. Ich mache eine Pause und schaue ihm nicht mehr zu. Wenn ich nach einer Weile wieder hinsehe, ist alles anders – ein neuer Entwurf. Lauter sich auflösende gekräuselte Linien auf wolligen Flecken. Auf einmal zittern alle Linien in einer Art Vibrato, die Zeichen sind zu Musik geworden. Ich frage Julian: "Was ist jetzt los?", und er sagt: "Ich weiß nicht. Vielleicht sind es action paitings."

Ich liebe die Titel seiner Bilder, die wie Hinweise wirken, Verbindungs­glieder zwischen der Welt der Bilder und der Welt der Worte. Zeichen müs­sen nicht wie Eulen oder Häuser aussehen. Es ist eine visuelle Welt, in der schäumende Formmassen nicht gleich Wolken sind. Ich merke, dass mein Verstand verzweifelt nach Worten sucht. "Übersetzung! Bedeutung!", for­dert er. Dann schalte ich ihn aus. Diese Bilder können ohne Namen aus­kommen und das ewige Geheimnis in allen Dingen verkörpern. 

Schwimmen und sich treiben lassen

Julian und ich sind durch den Tod miteinander verbunden. Ich erinnere mich, wie er seine Mutter, als sie schon sehr alt war, ein fragiles Knochen­bündel, sanft durch den Pool auf den Armen trug, sich mit ihr im Kreis drehte und fragte: "Gefällt es dir hier?", und sie antwortete: "Vor allem mit dir." Ich erinnere mich, wie er sich um seinen Vater Jack kümmerte, ein Pflegebett in seinem Haus aufstellte und jeden Morgen mit dem Telefon in den Raum kam, es Jack reichte und sagte: "Hier, Pop, nimm das Tele­fon. Ruf deinen Makler an. Nimm das Telefon. Er wartet auf deinen Anruf." Wie er ihn am Leben hielt. Als Jack starb, rief Julian Lou an und bat ihn zu kommen und mit ihm bei seinem Vater zu sitzen, der tot im Bett lag. Julian hatte ein Maltuch um den Kopf seines Vaters gebunden, damit sein Mund geschlossen blieb.

Er verstand Lou besser als fast jeder andere. Ihre Freundschaft beruhte auf grenzenlosem Vertrauen und völliger Vertrautheit. Er hat meine Lieb­lingsfotos von Lou in Montauk aufgenommen: Lou mit Badehose in einem alten Cabriolet, mit einem Schwert in der Hand. "Wie ein Samurai oder jemand aus einem Film von Tarkowski", sagt Julian. Es ist Liebe, aber auch Vertrauen – auf jedem Bild von den beiden erkennt man es in ihren Augen.

Jahre später starb Lou. Julian kam am Tag davor zu Besuch. Es war zufällig Julians Geburtstag und er hob Lou in die Höhe, trug ihn in den Pool und drehte sich sanft mit ihm auf seinen Armen. Dann saßen wir zu dritt auf dem Sofa und sahen uns Julians und Lous Film "Berlin" an. Lou jauchzte glücklich, vor allem wenn Steve Hunter coole Gitarrenriffs spielte. Und während des Abspanns riefen sie gemeinsam: "Wer hat diesen Film bezahlt? Die Autoren!" Dann brüllten sie vor Lachen. 

Welche Farbe hat der Himmel?

Als ich vor ein paar Sommern in Venedig war, schickte mir Julian eine SMS: "Fahr mit dem Zug nach Padua und geh in die Scrovegni-Kapelle. Ruf mich an, wenn du dort bist." Ich kam früh an und stand lange in der Schlange. Als ich endlich in die Giotto-Kapelle gehen konnte, blickte ich als erstes zur Decke auf. Der Himmel war tiefblau, mit Sternen in regelmäßigen Abständen.

Welche Farbe hat der Himmel? Natürlich alle Farben, je nach Zeit und Ort. Für einen mittelalterlichen Maler ist er golden. Keine Farbe mehr, sondern eine Idee. Wie der Himmel in einem Gemälde. Wie oft konnte ich den Himmel durch deine Augen sehen? 

Louise

In diesem Sommer während der Pandemie arbeitet Julian wie sonst auch. Er malt seine Frau und Mitarbeiterin Louise bei Kerzenschein. Sie trägt die traditionelle schwedische Santa-Lucia-Kerzenkrone, die symbolisch Licht in die Dunkelheit des Winters bringt. Ich trug diese Krone früher als schwedisches Kind in Chicago, das morgens Kaffee und Weihnachtsgebäck hereintrug, und sie ist ganz schön schwer. Auf dem Gemälde kommt Lou­ise aus der Dunkelheit auf uns zu. Sie haben in den vergangenen Monaten zwei Drehbücher fertiggestellt, und früher schon ihren Film "Van Gogh - An der Schwelle zur Ewigkeitgemeinsam geschrieben und geschnitten. Louise malt ebenfalls, eine freihändige, lebensgroße Kopie von Caravaggios Judith und Holofernes. Sie sagt, sie sei keine Malerin, aber es ist erstaunlich. Ich beobachte die beiden zusammen und spüre, wie glücklich sie sind. Es ist inspirierend, mit anzusehen, wie Menschen ihr Leben erfinden.

Dort drüben lehnt ein Tellerportrait des Filmregisseurs Martin Scor­sese, das vor der Pandemie in New York nach dem Leben begonnen wurde und in Montauk über FaceTime fertiggestellt. Julian bat Marty, sich in sei­nem Arbeitszimmer ans Fenster zu stellen, damit es dem Licht im New Yor­ker Atelier entsprach. Wie seine anderen Portraits besitzt es telepathische Kraft. Martys Blick ist voller Traurigkeit und Klarheit. Man spürt, wie er sich bewegt. Die Art, wie er die Arme um sich gelegt hat, zeugt von seiner Stärke und zugleich von seiner Wärme. Auf diesem Bild erkennt man Juli­ans Zuneigung und Respekt. Er fragt mich immer wieder: "Siehst du ihn wirklich darin ... spürst du ihn?"