Wie steht es eigentlich mit der alten Angewohnheit, etwas im Bewegtbild vermitteltes tendenziell als wahr zu begreifen, so lange zumindest, bis man Hinweise auf Lüge oder Manipulation bekommt? Gilt beim Sehen von Filmen und Videos die Unschuldsvermutung, oder ist sie längst abgelöst von einer ganz allgegenwärtigen Verdächtigkeit, die schlussendlich alles einigermaßen egal macht?
Die von Rachel Vera Steinberg kuratierte Ausstellung "Mythologists" in der Stoschek Collection in Düsseldorf nähert sich den Fragen nach Wahrheiten von der Seite des Erzählens an. Die Gruppenschau setzt sich komplett aus einer Auswahl der viele hundert Kunstwerke zählenden Sammlung von Julia Stoschek zusammen, die Medienkunst, hauptsächlich Filme und Videos sammelt. Steinberg, Studentin der Curatorial Studies am Bard College, ist die erste, die mit einem Stipendium der Julia Stoschek Collection ihre eigene Ausstellung kuratieren kann.
Der Vorwärtsschub der Jugendkulturen
Darunter ein Meilenstein für musikbegeisterte Kunstliebhaber, "Fiourucci made me Hardcore" von Mark Leckey (1999). Julia Stoschek, selbst musikbegeistert, hatte das Werk bisher noch nicht gezeigt. Der Film besteht aus found footage der britischen Musikszenen, von Northern Soul bis Rave, er wird getragen von den Beats und dem Vorwärtsschub der Jugendkulturen und fügt sich in seiner mitreißenden Unergründlichkeit schön ein ins Thema Mythologien.
Dazu passt perfekt Klara Lidens Video "Grounding", bei dem sie durch Manhattan stolpert. Ausgehend von einem ikonischen Musikvideo von Massive Attack ("Unfinished Symphathy", 1991) adaptiert Liden die Steadycam-Choreografie für einen improvisierten Spaziergang in Lower Manhattan. Hier werden die Chase Manhattan Plaza und die New York Stock Exchange zur Kulisse für eine Abfolge von harten Stürzen auf den Bürgersteig. Der Vorwärts-Imperativ wird zum gefährdenden Taumel, diese Stadt ist viel zu hart.
Sind Städte überhaupt noch für Menschen gemacht? WangShuis Video "From Its Mouth Came a River of High-End Residential Appliances" (2018) zeigt Hong Kongs teuerste Wohnhochhäuser, deren Dimensionen unmenschlich erscheinen, doch die oberen 30 Stockwerke haben in der Mitte eine große, quadratische Aussparung. Da, wo etliche weitere Wohnungen Rendite bringen könnten, ist Leere, ein Loch, man sieht hindurch auf die Küste. Denn die Drachen, so die Mythologie, müssen von den Bergen ans Wasser kommen können. Darum Drachenlöcher.
Märcheninszenierung mit Prinzessin und Folterern
So viel in der Ausstellung "Mythologists" fantasiert und gesponnen wird – dieser Teil der Erzählung stimmt tatsächlih. Und das ist von Wang Shui künstlerisch so schön und berührend umgesetzt, dass man sofort versteht, dass wir immer an sehr viele verschiedene, widersprüchliche Dinge zugleich glauben – an exzessiv verdichteten Wohnraum und seine Erträge, beispielsweise, aber auch an den Zorn des Drachen.
Oder eben an Mike Kelley. Der US-Amerikaner aus einer streng katholischen Familie war spezialisiert auf Mythen und Dämonen. Seine letzte Arbeit war "Extracurricular Activity Projective Reconstruction #36 (Vice Anglais)" von 2011, eine albtraumhafte Märcheninszenierung mit Prinzessin und Folterern, in der kindliche Ängste, die Brüder Grimm, Hollywood, Siedler-Pathos und Porno eine wirklich quälende Allianz eingehen, die in den Trump-Jahren, die Kelley nicht mehr miterlebte, noch mal eine beklemmende Aktualität bekommen haben. 2012 nahm er sich mit 57 Jahren in seinem Haus in Los Angeles das Leben.
"Mythologists" ist eine Ausstellung, die ihr Medium gleich mitreflektiert. Das Machtinstrument, das Filme sind, wird in fast allen gezeigten Werken eingesetzt und gleichzeitig gebrochen. Auch heute können brandneue Mythen eingepflanzt werden als vermeintliche Erinnerungen, ob als gemeinsames oder individuelles Narrativ. Die Erzählfäden überkreuzen sich, lösen sich wieder auf, irgend etwas bleibt hängen. Am Ende setzt sich durch, wer die beste Geschichte hatte.