Die Werke, die derzeit im Kunstverein Harburger Bahnhof in Hamburg zu sehen sind, stellen die Frage, wo Natur und Kultur sich treffen. Gepaart mit melancholischen Gefühlen und USA-Nostalgie verbinden sich die stilistisch so unterschiedlichen Werke von Jonas Brinker und Joram Schön inhaltlich.
Spaziert man eine Weile durch den zugigen Bahnhof und lässt sich von den herumflatternden Tauben nicht abschrecken, kann man im ersten Stock des Gebäudes eine große, folienbeklebte Tür entdecken. Sie führt in eine ehemalige Wartehalle, die nun vom Kunstverein bespielt wird und in der derzeit die Ausstellung "What Remains of Light" läuft. Wagt man sich schließlich hinein, ist es, als betrete man eine Zwischenwelt. Der Raum ist abgedunkelt, die einzige Lichtquelle ist die schräg stehende Leinwand, auf der die Videoinstallation "Nightfall" von Jonas Brinker zu sehen ist.
Sie zeigt Nahaufnahmen von Glühwürmchen: wie sie über Blätter krabbeln, sich aufbäumen, hell aufblinken und damit ein Paarungssignal abgeben. Manchen der Insekten gelingt es, mit ihrem Leuchten Artgenossen anzulocken, die Vereinten treffen sich auf Buschblättern. Zuweilen mutet die Optik des Videos wie eine "Natur-Doku" an - wären da nicht die suchenden Bewegungen, mit denen die Kamera den Tierchen folgt, das Spiel mit Unschärfe, die traumartige Wirkung der Szenerie. Das Licht des Films spiegelt sich auf dem glatten Boden der Halle, die Bilder reichen in den Raum hinein, was ihnen etwas Skulpturales gibt.
Mikro- und Makro-Blicke
Während des etwa siebenminütigen Films geht der Nachmittag in den Abend über, die Sonne schwindet, die Dämmerung ist die Zeit der Glühwürmchen. Zeitlichkeit und Vergänglichkeit sind noch auf eine andere Art in das Werk eingeschrieben: Die Paarung der Insekten findet am Ende ihres kurzen, etwa zweimonatigen Lebens statt. "Es spiegelt das letzte Aufbäumen der Schönheit", beschreibt Klara Hülskamp, die Kuratorin der Ausstellung, das helle Glühen vor dem Tod.
Unterlegt ist das Video von Stadtgeräuschen: diesem typischen Hintergrundrauschen aus Helikoptern, Sirenen, Verkehrslärm - und wenn man genau hinhört, einem Straßenmusiker. Mit dem Einbruch der Nacht werden die Geräusche dumpfer, auf die sanfteren Schnitte folgt ein harter: Die Kamera fliegt über das nächtliche New York, geradewegs durch die unverkennbare Skyline, vom Chrysler Building, das durch den Gegenschnitt auf einmal auch etwas Insektenhaftes hat, zum Empire State Building, über den Central Park. Genau dort nämlich hat Jonas Brinker auch die Glühwürmchen beobachtet, über mehrere Wochen im Jahr 2022.
Die Rotoren des offenen Helikopters, aus dem Brinker gefilmt hat, rattern. Je näher man an die Leinwand tritt, desto schwindeliger wird einem beim Zusehen - es ist, als würde man in die dunkle, glitzernde Stadt kippen; der reale Raum gibt kaum noch Halt. Nach den minutenlangen, langsamen Mikroaufnahmen der Glühwürmchen, die wie Riesen wirken, mutet die schier unendliche Weite New Yorks von oben fast genauso unwirklich an wie der genaue Blick auf die Insekten. "Mich interessiert die Überlappung. Das Leuchten der Käfer und das der Gebäude, die Überschneidung in den Formen - und ich spiele damit, wie unser Blick auf die Dinge geprägt ist", sagt Brinker bei der Eröffnung.
Das anziehende Leuchten in doppelter Ausführung
Die Videoinstallation läuft im Loop: Monumentale Glühwürmchen und spielzeughafte Wolkenkratzer wechseln sich ab. Brinker nennt das im Gespräch "parallele Welten". Für eine von ihnen muss genau hingeschaut werden, zumal wir Käfer nicht unbedingt mit Ästhetik verbinden.
Der Flug über das nächtliche New York erinnert dabei an zahlreiche Filme und Serien-Schnittbilder, die diese Stadt als Spielort haben. Ein Video der Skyline als unbestimmte popkulturellen Referenz; bei jedem und jeder mögen andere Bilder in den Kopf strömen – von den Serien "Suits", "Sex and the City", "Gossip Girl" oder "Mad Men" bis hin zu Filmklassikern wie "Der Stadtneurotiker" und "Manhattan", "Breakfast at Tiffany's" oder "Spider-Man". Diesen Bildern wohnt Nostalgie inne: New York als Traumort, an dem alles möglich scheint, die schiere Größe überwältigend, das Glitzern anziehend. Diese aufregenden und doch wohligen Phantasmen über die Stadt bekommen einen bitteren Beigeschmack: Drängen sich aktuell doch immer mehr Bilder von Donald Trump in den Kopf, wenn man an die Metropole mit dessen goldenem Hochhaus denkt.
Mit den USA-Bezügen geht es auch in den Werken von Joram Schön weiter, dessen Zeichnungen, Malerei und Filme unter dem Titel "Schimären des Glücks - in 7 Sequenzen" in vier Schaukästen neben den Bahngleisen im Harburger Bahnhof gezeigt werden. In horizontalen Anordnungen, die an ein kindliches Wimmelbild erinnern, reiht er in einem großformatigen Gemälde amerikanische Szenerien aneinander: Surfboards, Strände, Trucks, architektonische Miniaturen.
Die Kunst fordert ein Innehalten
In die übereinanderliegenden Streifen bricht die Natur ein, mittig vor den Hochhäusern erhebt sich ein Berg, dunkle Wolken lauern auf dem hellbeigen Hintergrund. Die kindliche Vorstellung davon, was eine Stadt sein kann, die Sehnsucht und das Spiel mit ihr als Kulisse tauchen auch in der Videoinstallation "FFM-Ghost - Stadt, Land, Untergrund" auf. Ein Mädchen, die Tochter des Künstlers, schlägt in einem rot-weißen Baseball-Outfit Räder durch Frankfurt am Main, immer tiefer in die Stadt hinein, vorbei am Bankenviertel und durch U-Bahn-Höfe - schräg, kindlich und von der Umgebung dennoch unbeobachtet. Auch hierbei begegnet das Kind immer wieder Hinweisen auf die USA, die in Frankfurt durch die enge Verknüpfung mit Exil-Communitys und Truppenstationierungen naheliegt.
Der Ausstellungsort wird bei den Werken, die mit Blicken auf und Begegnungen mit Urbanität spielen, zum Co-Protagonisten. Die Kuratorin Klara Hülskamp nennt den Bahnhof einen "Transit-Ort". "Man ist nicht drinnen und nicht draußen, es sind Warte-Orte", fügt Joram Schön an. Steht man vor seinen Werken, zwischen Gleisen und Snack-Automaten, werden die vorüber eilenden Menschen Teil der Ausstellung. Ähnlich wie das radschlagende Kind von den Passanten unbemerkt bleibt, so fallen nicht allen Reisenden die Schaukästen auf. Einige bleiben dann aber doch stehen, oder treten beim Warten auf die nächste Bahn herüber.
Vielleicht liegt darin die größte Melancholie der Ausstellung. Der Wusch danach, dass jemand stehen bleibt und genau hinsieht, sich auf die Details einlässt. In einer Umgebung, die für das schnelle Kommen und Gehen geschaffen ist, fordert die Kunst ein Innehalten ein. Diese Sehnsucht ist stärker, als die nach den USA als Land der unbegrenzten Möglichkeiten oder die immerwährende Frage, wie Kultur und Natur sich begegnen.