Historische Postkarten

Urlaub im Menschenaquarium

Die Postkarten des Fotografen John Hinde zeigen britische Holiday Camps als aberwitziges Tourismus-Wunderland. Heute sicher nicht mehr das Ideal - aber man muss schon ein Stahlherz haben, um den Wimmelbildern mit Überheblichkeit zu begegnen

John Hinde (1916–1997) hat als Postkartenfotograf ganze Landstriche Großbritanniens in zuckrige Urlaubspanoramen zum Verschicken verzaubert. Seine Arbeiten sind Zeugnis des Versuchs, auch dem bescheidensten Ort noch einen Hauch von Glamour abzugewinnen. Hindes Aufnahmen aus den Butlin’s Holiday Camps (1960er- bis 70er-Jahre) stechen jedoch aus diesem prallbunten Konvolut nochmals heraus. Und das liegt nicht nur an der typischen Handschrift des Postkartenstudios, zu dem später Fotografen wie Elmar Ludwig, Edmund Nägele und David Noble stießen, sondern auch an den abgebildeten Raumszenarien selbst.

Es sind menschengemachte Shangri-Las in Technicolor. Mit den fabelhaftesten bis aberwitzigsten Attraktionen, die man sich nur vorstellen kann: Eine eigene Monorail zum Beispiel, die großzügig Ausblick auf die darunter liegenden Außenpools bietet. Überhaupt Schwimmlandschaften, im Plural – die verrückteste Idee sind vielleicht die Guckkästen in der Schwimmbeckenwand, mit maritimem Plastikdekor davor und einem Café dahinter, aus dem die Besucher in ein knallbuntes, menschenbestücktes Aquarium blicken können. Dazu Themenrestaurants und riesige Ballrooms, in denen unter Festbehang und vor Publikum fröhlich das Tanzbein geschwungen wird. Kurzum, ein ganzes Urlaubsuniversum zwischen britischer Exzentrik und ebenso britischer Five-o-clock-tea-Gemütlichkeit, Tiki-Grotte und Bingo-Halle, psychedelisch gemusterter Auslegeware und einem Hauch von Mid-Century-Moderne.

Warum fährt man noch gleich in den Urlaub? Einen solchen zur Schau gestellten ennui muss man sich als reisemüder Weltenbummler natürlich erst einmal leisten können. Die Butlin’s-Fotografien von John Hinde geben jedenfalls eine sehr charmante Antwort auf diese Frage: Natürlich, um all die tollen Dinge zu erleben, die es zu Hause gar nicht gibt! Die heimischen Ferienresorts von Billy Butlin, der seine Karriere einst mit einem Ringewerfen-Stand auf dem Jahrmarkt begründete, gaben den Vaudeville-Spirit seines Gründers an die Gäste zurück. Was nicht vorhanden ist, so offenbar das unausgesprochene Motto, das wird eben als Attrappe an Ort und Stelle aufgebaut. Es sind regelrechte Ausdenkwelten, im Ausstellungskontext würde man vielleicht von Environments oder begehbaren Skulpturen sprechen, die in der wahren Welt zum Teil überhaupt keine Entsprechung finden.

Der Familienurlaub wurde plötzlich erschwinglich

Die zugehörigen Postkarten von John Hinde und seinem Team sind dabei auch historische Zeugnisse. Es war die Zeit, in der Familienurlaub mit kleinerem Geldbeutel plötzlich für viele Menschen erschwinglich wurde. Und in der sich Ferienanbieter auch im eigenen Land zunehmend einiges ausdenken ließen. Kein Wunder, dass Fotograf Martin Parr Fan von John Hindes Studio und insbesondere dessen satt nostalgischen Butlin‘s-Bildern ist. Für einen 2002 aufgelegten Sammelband hat der britische Künstler ein Vorwort verfasst, in dem er sich daran erinnert, wie er eifrig Postkarten sammelte und die leuchtend farbigen Kompositionen später bei ersten eigenen Arbeiten im Hinterkopf behielt (Parr bezeichnet jene Bilder sogar im Rückblick als die ‚vielleicht stärksten Farbfotografien von Großbritannien der 1960er- und 1970er-Jahre). Und vielleicht hilft das Studieren von John Hindes Butlin’s- Fotografien ja sogar dabei, den Vorwurf der zynischen Verachtung zu widerlegen, die ihrem Bewunderer Parr immer wieder unterstellt wird.

Ist es also vielmehr ein emphatisch-faszinierter, umarmender Blick auf das wilde Geschehen in den britischen Strandbädern der unteren Angestellten- und Arbeiterklasse, mit dem der Fotograf seine Motive suchte? Wäre der empfundene Zynismus somit eher beim Publikum zu suchen, ökonomisch oft aus ganz anderen Zusammenhängen kommend, das beim Betrachten der Bilder seinen eigenen Zivilisationsekel auf die urlaubenden Protagonisten projiziert?

Unfreiwillig lustig wird es trotzdem manchmal

Denn Urlaubsidylle bedeutet heute natürlich vor allem: ohne sichtbare Mitmenschen. Wie das in der Realität vor Ort ausschaut, ist freilich eine ganz andere Frage. So trifft der Argwohn, mit dem gern über Massentourismus hergezogen wird, für gewöhnlich eher jene, die sich gar keine andere Form des Urlaubs leisten können. Und nicht den Safari-Tourismus im eben nur vermeintlich menschenleeren Afrika. Oder den Luxus-Tourismus auf den Malediven, wo sich die Touristin nach vielen Flugstunden im plastikfreien Öko-Resort an den Strand legen darf, während für die Bewohnerinnen des Landes ganz andere Regeln gelten. Auch ein Motiv vom nicht immer sensiblen Wandern in abgelegenen Naturgebieten wird wohl eher mit Assoziationen wie "schön" und "nachhaltig" bedacht als beispielsweise der Urlaub in der oft bereisten Großstadt.

In Butlin’s Holiday Camps hingegen weiß man, dass umgekehrtes gilt: The more, the merrier! Und hier ist das ja auch absolut möglich. Die Fotografen aus John Hindes Studio inszenieren die Attraktionen und Kuriositäten aus Billy Butlins Ferienparks stets gut besucht bis dicht gedrängt. Kein Zentimeter zu viel Leere soll da aufkommen. Und es wirkt sogar meist trotzdem wirklich einladend. Vielleicht auch wegen der echten Menschen, die die abgebildeten Urlaubslandschaften beleben. Man muss schon ein Herz aus Stahl haben, um den flirrenden Wimmelbildern mit Überheblichkeit zu begegnen, so viel Fröhlichkeit und (britische) Geselligkeit strömt aus ihnen heraus. Unfreiwillig lustig wird es trotzdem manchmal. Auf einem der schön-schaurigsten Postkartenmotive leuchtet das Versprechen des Urlaubsanbieters als Neon-Schriftzug von einem Gebäude wie eine herrliche Drohung in den Nachthimmel: "Our True Intent Is All For Your Delight".