Vielleicht ist alles nur ein großes Missverständnis, und Jimmie Durham wollte nie wirklich mit seiner Kunst indigene Völker Amerikas repräsentieren, wie es ihm vor einigen Jahren vorgeworfen wurde. Vielleicht geht es nur darum, sich die "vermeintlichen Vorstellungen über Natur und Gesellschaft seines meist weißen und gut gebildeten Publikums zunutze" zu machen, wie Heike Munder, die Direktorin des Züricher Migros Museums, im Katalog zur dortigen Ausstellung des Künstlers 2017 schrieb.
Zur Erinnerung: Künstler und Kulturarbeiterinnen hatten dem 1940 in den USA geborenen Durham Betrug vorgeworfen und seine Cherokee-Identität angezweifelt. Durhams Beschäftigung mit indigenen Themen untergrabe die Souveränität der Cherokee-Stämme und banalisiere ihre politische Arbeit.
Doch empfiehlt es sich, die Betrachtung des Werks dieses Künstlers zunächst nicht auf Identitätsfragen zu verengen. Man sieht dann schlicht mehr. Durham arbeitete immer wieder gegen Geformtes und Genormtes, "gegen Architektur", wie er sagte. Dafür benutzte er oft Steine, beulte Kühlschränke ein, zertrümmerte Museumsvitrinen, warf Felsbrocken auf Autos. Vom "Einklang mit der Natur", von der "Indianer"-begeisterte New-Age-Anhänger träumen, hat das wenig. Es ist eher eine gemeinsame Kaputtheit, die Mensch und Tier und Pflanzenwelt sich nun teilen müssen.
Erste Performance mit Mohammed Ali
Als Teenager floh Durham aus den rohen, ärmlichen Verhältnissen der heimatlichen Cherokee-Gemeinde in Arkansas und schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten auf Farmen und in Städten durch. Er traf Menschen mit ähnlichem biografischen Hintergrund, nahm Anfang der 60er-Jahre teil an alten, Meskalin-basierten Peyotekulten der Native American Church und lernte durch diese Begegnungen mehr über seine Herkunft. "Bei diesen Kulten sang man plötzlich traditionelle Indianerlieder mit, die man zuvor nie gehört hatte", sagte Durham einmal. Wichtig an dieser Erinnerung ist ihm nicht etwa das Geheimnis, wie so etwas möglich war, sondern dass die indigenen Völker Amerikas zu dieser Zeit zusammenfanden, statt auf einzelnen Stammesidentitäten zu beharren. "Dadurch entstand eine gewaltige politische Energie."
Auch der Rassismus, mit dem er auf seinen Reisen konfrontiert wurde, zwang dem jungen Durham eine Identität auf. "Ich habe mich in Amerika nie wohl fühlen können", sagt er. Bald wurde der Umherreisende politisch aktiv. Seine erste Performance führte er in Houston gemeinsam mit Mohammed Ali auf. Unterdrückung führte zu bürgerrechtlichem Engagement, Politik schlug schnell um in Kunst.
Das Leben Durhams war geprägt von Umwegen, von einer Rastlosigkeit. In Genf hat er Kunst studiert, leitete in den 70er-Jahren in New York das International Indian Treaty Council und vertrat diese wichtigste Native-American-Organisation bei der UNO. Er lebte in Mexiko, Brüssel, Marseille. Ein DAAD-Stipendium hat ihn nach Berlin gebracht, wo er zuletzt wohnte. Das Umherwandern war auch Grundlage seiner Kunst. Auf Streifzügen durch die Stadt kartografierte Durham seine Umgebung, sammelte Gegenstände und arrangierte sie in seinen Ausstellungen neu.
Goldener Löwe der Venedig-Biennale
2016 erhielt Jimmie Durham den Kaiserring der Stadt Goslar, 2019 den Goldenen Löwen der Kunstbiennale von Venedig für sein Lebenswerk. Dort waren dann auch seine jüngsten Skulpturen zu sehen: Sie bestehen aus den Schädeln der größten Tierarten Europas und weiteren Materialien, die ihre Körper darstellen. Man schaut in Augen aus Glas und Kupfer, in grinsende, angriffslustige, schiefe, bemitleidenswerte Tiergesichter aus Leder und Farbe, auf Beine aus Rohren und Ohren aus Draht. Diese Gestalten zu betrachten ist ein ästhetisches Vergnügen. Manche haben die Anmutung hingeworfener Skizzen, andere hingegen eine geradezu erdrückende Präsenz. Klassische Fragen der Bildhauerei drängen sich auf: Was passiert, wenn man Bestandteile des Dargestellten (die Schädel) mit in die Darstellung aufnimmt? Kann Kunst Tote zum Leben erwecken?
Darüber hinaus ist der konzeptuelle Ansatz bemerkenswert, ausgerechnet die größten Tiere zur Darstellung zu bringen, als müsse etwas bewiesen werden. In einem auf interessante Weise kruden Text für den Migros-Katalog schrieb der Künstler von den "Veränderungen, die wir mit unseren schweren Fäusten und Füßen anrichten" im Erdzeitalter des Menschen, dem Anthropozän. Dieser Kampf zwischen zivilisatorischer Gewalt und den Urkräften von etwas, das wir immer noch – Anthropozän hin oder her – als Natur bezeichnen, war das eigentliche Thema dieses verdienstvollen Künstlers.
Am Mittwoch ist der Künstler in den frühen Morgenstunden gestorben. Er hinterlässt seine Partnerin, die brasilianische Künstlerin Maria Thereza Alves. Seine Arbeiten sollen 2022 auf der 15. Ausgabe der Documenta zu sehen sein.