Wer jemals britische Rave-Veteranen des "Second Summer of Love" von 1988 getroffen hat, wird sein ganzes Leben das Gefühl nicht mehr los, etwas verpasst zu haben: Das Ecstasy sei damals noch gut gewesen, die Leute wussten, was Solidarität ist, auf dem Land konnte man noch frei atmen und der Smiley war das schönste Nationalsymbol in einer Welt ohne Nationen. In ganz England ravte sich die Jugend in eine ungewisse Zukunft, emanzipiert und hedonistisch.
"Es zerreißt mir das Herz, wenn ich diese junge Menschen in diesen Aufnahmen tanzen sehe", sagt Jeremy Deller in der Dokumentation "Everybody In The Place - An Incomplete History of Britain 1984 - 1992". Er steht in diesem einstündigen Film vor einer Schulklasse in London, zeigt den Jugendlichen Footage aus der Hochzeit von Acid House und Techno und erzählt die Geschichte dieser Clubmusik: die Ursprünge in Detroit, dann die Adaption durch ein migrantisches Publikum in Nordengland, Ende der 80er-Jahre die Explosion dieser Energie im britischen Mainstream.
Turnerpreisträger Jeremy Deller macht sich gut in der Rolle des Geschichtslehrers. Immer wieder hat er in Performances, Installationen und Videos die britische Historie verarbeitet: Er veranstaltete eine Parade zur Feier der Stadt Manchester für "Procession" (2009) und baute in "Sacrilege" (2012) Stonehenge als Hüpfburg nach. Sein wohl bekanntestes Werk heißt "The Battle of Orgreave" (2001) – ein Reenactment des Bergarbeiterstreiks von 1984, bei dem der Konflikt zwischen der Regierung Thatcher und britischen Gewerkschaften eskalierte. Als eine Art Anthropologe versucht der englische Künstler, der jüngeren Vergangenheit neue Perspektiven hinzuzufügen. Dabei findet er das Politische in der Populärkultur.
So auch in "Everybody In The Place": Hier erfährt man, wie die durch das System Thatcher und den Bergarbeiterstreiks aufgestaute Spannung sich in Massenraves entluden, wie die Feiernde in den Clubs Hacienda und The Shoom unbewusst den Übergang von der Industrie- in die Dienstleistungsgesellschaft bewältigten – und was das alles mit dem Brexit-England der heutigen Tage zu tun hat.
In den Feiernden von damals sieht Deller "Vorzeichen der digitalen Zukunft", die inzwischen Gegenwart geworden ist. Und das ist das Geniale an der Doku, die ursprünglich im vergangenen Jahr für die Londoner Kunstmesse Frieze als Auftragsarbeit entstanden ist und in der vergangenen Woche in der BBC ausgestrahlt wurde: dass hier die diverse, digital informierte Schulklasse der Jetztzeit auf die Jugend der 80er-Jahre blickt, dass sich also den ganzen Film lang damals und heute gegenüberstehen. Sind wir weitergekommen in den letzten 30 Jahren? "Was damals die Musik war, sind heute sie sozialen Medien", sagt eine Schülerin. Es ist eine von vielen Erkenntnissen, die man aus diesem großartigen Film mitnimmt.
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