In Venedig gab es noch ein Problem mit dem Licht, und in Helsinki ist der Winter zurückgekehrt. An einem Freitag Anfang April treibt ein eisiger Wind dicke Schneeflocken über den Bahnhofsvorplatz der finnischen Hauptstadt und lässt jeden Gedanken an einen Kunstfrühling ziemlich weit weg erscheinen. Doch rund 2000 Kilometer südlich kratzt die italienische Lagunenstadt längst an der 20-Grad-Marke und wappnet sich für die 60. Ausgabe der Biennale Arte und den Ansturm des Spritz-durstigen Publikums.
Obwohl der Aufbau des finnischen Pavillons schon so gut wie abgeschlossen war, musste die Künstlerin Jenni-Juulia Wallinheimo-Heimonen in dieser Woche noch einmal einen Abstecher nach Venedig machen und ein paar Details ihrer Installation zurechtrücken. Doch nun steht alles, und für ein paar Tage hat sie der finnische Alltag wieder. Die Tochter muss zum Zug ins Schwimmtrainingslager gebracht werden, und auf dem Weg kann man gleich die Journalistin aus Deutschland abholen und durch den Schnee mit nach Hause in einen Vorort von Helsinki nehmen.
Die längste Zeit ihres Künstlerinnendaseins haben Großereignisse wie die Venedig-Biennale für die 1974 geborene Wallinheimo-Heimonen keine Rolle gespielt, genauso wenig wie die sogenannte "Art World" und ihr vollgestopfter Jahreskalender. Schon im Auto, einem praktischen Renault Kangoo, spricht sie deshalb von ihrem Gefühls-Cocktail zur bevorstehenden Eröffnung und der Begegnung mit der versammelten Kunstprominenz: Aufregung, Vorfreude, Unsicherheit und Angriffslust, alles gut durchgerührt. "Andere Künstler wissen vielleicht, wie man sowas macht", sagt sie. "Ich weiß es nicht."
Ein Rollstuhl wird zum Thron
Jenni-Juulia Wallinheimo-Heimonen ist eine von drei finnischen Künstlerinnen, die ihr Land in diesem Jahr bei der Biennale vertreten. Die anderen beiden sind Pia Lindman, die zu ihrer Weltwahrnehmung nach einer Quecksilbervergiftung arbeitet, und Vidha Saumya, bei der es um Utopien und das Leben im Exil geht. Im kleinen, aber ikonischen Alvar-Aalto-Pavillon in den Giardini muss man zu dritt schon ziemlich eng zusammenrücken. Trotzdem findet Wallinheimo-Heimonen, dass aus den einzelnen Werken etwas Zusammengehöriges geworden ist. "Wir haben unsere eigene künstlerische Sprache", sagt sie. "Aber bei uns allen geht es darum, dass die Welt, so wie sie ist, nicht für uns gemacht ist."
Sie selbst arbeitet seit Jahrzehnten zum Thema Inklusion - auch wenn sie den Begriff nicht besonders mag. In ihren Installationen und Performances mischt sie Textilkunst mit Film und umgedeuteten Objekten, denen man sonst eher als wenig ästhetische Hilfsmittel aus dem medizinischen Bereich begegnet. Ein Rollstuhl kann ein Thron oder ein glitzernder Karussellsitz werden, ein Rollator eine Art Batmobil oder eine Gehhilfe Teil eines Mobiles. Oft geht es um Vorurteile und Projektionen, die Menschen mit Beeinträchtigungen begegnen, und um das Unterwandern von Erwartungen an Körper, die die Gesellschaft "behindert" nennt.
Die Künstlerin und Aktivistin, die selbst mit Osteogenesis imperfecta, der sogenannten "Glasknochenkrankheit", lebt, bezeichnet ihre Kunst als "Disability Art". In einer idealen Welt, sagt sie, müsste es dieses Label vielleicht nicht geben und sie könnte einfach "Art" machen. Sie hat erlebt, wie sie in der Öffentlichkeit immer wieder auf ihren Körper reduziert wurde. Die Bewunderung, dass sie trotz ihrer genetischen Disposition Künstlerin wurde, fühlte sich giftig an. Sie machte deutlich, dass sie als Ausnahme wahrgenommen wurde. Ihr Leben schien für Menschen wie sie nicht vorgesehen.
Diskriminierung durch die Gatekeeper
Und doch legt Wallinheimo-Heimonen in der Welt, wie sie ist, Wert auf diese besondere Bezeichnung. "'Disability Arts' bedeutet, dass Künstlerinnen und Künstler, die selbst mit Einschränkungen leben, ihren Erfahrungen durch die Kunst eine Form geben", sagt sie. "Und es heißt auch, dass es einen gewissen Humor gibt, den vor allem die Community versteht. Es geht um eine gewisse Art von Zugehörigkeit, aber die Kunst bringt vielleicht auch Menschen ohne diese spezielle Erfahrung dazu, anders auf das Thema Behinderung zu schauen. Zu sehen, dass es auch unser System ist, das bestimmte Körper einschränkt und behindert."
Für Venedig hat sich Jenni-Juulia Wallinheimo-Heimonen das Thema Hassrede ausgesucht, das viele Menschen außerhalb bestimmter Gesundheitsnormen betrifft. "Es gibt eine Umfrage, dass ungefähr 38 Prozent der Hassrede gegen Personen mit körperlicher und geistiger Einschränkung aus dem Medizin-Sektor kommt, zum Beispiel von Ärzten oder Pflegerinnen", erzählt die Künstlerin beim Kaffee in ihrem nicht ganz barrierefreien, aber selbstgewählten Holzhaus auf dem Land. "Als ich das gelesen habe, war mir sofort klar, dass ich damit arbeiten will. Denn das bedeutet, dass die Diskriminierung von den Gatekeepern kommt, die im Ernstfall über Zugang zu Hilfsmitteln und allgemein die Qualität eines Lebens entscheiden können."
Wallinheimo-Heimonen hat im Laufe der Jahre viele dieser schädlichen Sätze gesammelt: von "deine Mutter hätte dich lieber nicht bekommen sollen, so was kann man doch heutzutage vorher wissen", bis zu "Frauen im Rollstuhl kann man bei Brustkrebs eher amputieren, die sind nicht so eitel". In dem Film, den sie für den Venedig-Pavillon gedreht hat, fällt jedoch kein einziger davon. Es sind stumme, surrealistische Szenen, in denen - so viel darf man schon verraten - Freunde der Künstlerin und bekannte Disability-Aktivistinnen auf Mediziner in weißen Kitteln treffen. Dabei werden die Machtverhältnisse gründlich durcheinandergebracht.
"Ich weiß nicht, ob ich gute Kunst mache"
Es ist nicht gerade ein subtiler Film. Die Rollen der Heldinnen und der Schurken sind klar verteilt, die Botschaft wird ziemlich deutlich ausbuchstabiert. Doch die finnische Repräsentantin scheint sich nicht sonderlich für klassische Qualitätskriterien zu interessieren und legt es eher darauf an, die Aufmerksamkeit des Biennale-gestressten Publikums so lange wie möglich zu halten. "Ich weiß nicht mal, ob es gute Kunst ist, was ich mache", sagt sie. "Aber wenn in Venedig nur ein paar Leute innehalten und bemerken, dass es so etwas wie 'Disability Arts' gibt, wäre das ein großer Erfolg."
Zum Beitrag im Pavillon gehört jedoch nicht nur die Sichtbarmachung eines Themas, sondern auch ein Eingriff in die Biennale-Routinen. Am ikonischen Gebäude der Architekten-Legende Alvar Aalto wurden (vorsichtig und denkmalgerecht, wie alle Beteiligten betonen) Schwellen abgesenkt und ein Handlauf angebracht, der gleichzeitig eine Installtion sein soll. Obwohl der Raum nicht besonders groß ist, gibt es eine taktile Karte für Personen mit Seheinschränkungen. Und die Audiodeskription der Werke kann man sich theoretisch auch überall auf der Welt in seinem Bett anhören. Denn das ist eine der bitteren Pointen der "Inklusions-Kunst" bei Großereignissen: Die allermeisten Menschen, die das Thema betrifft, kommen erst gar nicht nach Venedig. Auch die Künstlerin selbst war vorher nie auf einer Biennale.
Die verstärkte Beschäftigung mit Themen wie Care und Heilung in der Kunstwelt sieht Wallinheimo-Heimonen mit gemischten Gefühlen. Einerseits, so sagt sie, böten sich dadurch viel mehr Ausstellungs- und Fördermöglichkeiten für Kreative mit Einschränkungen – und so auch ganz schnöde ökonomische Existenzgrundlagen. Lebensentwürfe, die lange unsichtbar geblieben sind, bekommen eine Bühne und damit auch eine gewisse Selbstverständlichkeit. Andererseits liege der Fokus jedoch oft auf Geschichten der Genesung. "Heilung bedeutet, dass etwas verbessert werden muss", sagt sie. "Das betrifft vor allem Menschen, die später im Leben durch eine Krankheit oder einen Unfall eingeschränkt werden und in einem neuen Körper und einer oft feindlichen Gesellschaft ankommen müssen. Aber ich wurde so geboren, das bin ich. Ich leide nicht und ich muss nicht geheilt werden. Vielleicht würde es mehr helfen, die Vielfalt menschlicher Körper anzuerkennen und ihnen das Leben leichter zu machen."
"Wollen wir Superhelden?"
Diese Ambivalenz zwischen Alltagshilfe und Gesundheitsdiktat sieht sie auch bei neuesten technischen Entwicklungen und biometrischem Design, das Behinderungen "korrigieren" soll: etwa Exoskelette oder Prothesen, die durch Gedanken gesteuert werden. "Für einzelne Personen ist das sicher eine große Errungenschaft", sagt sie. "Aber ich frage mich manchmal, ob wir als Gesellschaft einzelne Superhelden erschaffen wollen, oder ob dieses ganze Geld nicht dafür verwendet werden könnte, um weniger ausschließende Strukturen und gute Pflege zu schaffen. Für die, die keine Superhelden sind."
Wallinheimo-Heimonen erzählt, dass sich Menschen mit Behinderungen durch technische Innovationen oft eher kontrolliert als unterstützt fühlen. "In Finnland gibt es die Überlegung, intelligente Tablettenbehälter einzuführen, die ein Signal senden, wenn man seine Medikamente genommen hat. Und wenn man das nicht tut, bekommt man eine Nachricht vom medizinischen Dienst", sagt sie. "Was, wenn eine erwachsene Person gerade Besseres zu tun hat, oder guten Sex? Ich hätte lieber einen Knopf, mit dem wir den Präsidenten erreichen, wenn wieder jemand wegen Personalmangel eine Woche nicht geduscht wurde."
Um die Kunstwelt wirklich zugänglicher zu machen, müssten ihrer Meinung nach Personen mit Einschränkungen auf allen Ebenen der Ausstellungshäuser tätig sein. "Diese Menschen müssen in Machtpositionen kommen, dann würde sich vieles verändern", sagt Jenni-Juulia Wallinheimo-Heimonen. "Wenn ein Museum eine Ausstellung macht, in die ihr Direktor oder ihre Direktorin nicht hineinkommt, würde das sehr schnell korrigiert werden." Bei allem Tatendrang und Optimismus, den die Künstlerin ausstrahlt, wird im Gespräch allerdings auch deutlich, dass ihr Vertrauen in Institutionen begrenzt ist – gerade nach der Corona-Pandemie, bei der ihrer Ansicht nach die Schwachen geopfert wurden. "Das war Sozialdarwinismus", sagt sie. "Das haben wir nicht vergessen."
Auch deswegen ist es für sie keine ganz einfache Aufgabe, den finnischen Staat in Venedig zu repräsentieren. "Das schlimmste, was passieren könnte, ist, dass ein Politiker oder eine Politikerin zu mir kommt und sagt, dass es ihm oder ihr leid tut, dass ich diese schlechten Erfahrungen mit Medizinern gemacht habe", sagt sie. "Dass sie es wieder auf die individuelle Ebene heben und sich niemand verantwortlich fühlen muss." Trotzdem sieht sie die Biennale vor allem als Chance, zumindest ein bisschen an den Strukturen des altehrwürdigen Kunstevents zu kratzen. "Dass so viele Menschen meine Kunst sehen werden, ist ein großes Geschenk. Ich möchte die Chance nutzen, um zu sagen, was ich zu sagen habe."
Für ein wenig Glamour bei ihrer ersten Eröffnung in den Giardini hat sie auch schon gesorgt. Den nüchternen Plastikgriff ihrer schwarzen Gehhilfe hat sie kürzlich durch eine filigrane Papageienfigur aus Messing ausgetauscht. Sie hat den Vogel mit dem Bauch nach oben montiert, damit er nicht nur ihre Füße sehen muss und in den Himmel schauen kann. Allerdings wirkt sein länglicher Körper mit angelegten Flügeln nun ein bisschen phallisch – genau die Art von ästhetischer Irritation, die Jenni-Juulia Wallinheimo-Heimonen gefällt. Was sie nicht bedacht hat: Bei Frost wird das Metall ziemlich eisig und unangenehm anzufassen. Für Schneetage wie diesen will sie dem Papagei vielleicht noch ein Jäckchen häkeln.