Als Shawn Carter Anfang der 80er-Jahre in der Sozialbausiedlung Marcy Houses seine heute legendären, unlinierten Notizbücher mit Reimen vollschrieb, hätte er sich wohl niemals träumen lassen, dass diese Texte einmal an der nur drei Kilometer entfernten Fassade der Brooklyn Public Library prangen würden. Dass sie nun dort hängen ist jedoch nur eines der vielen Dinge im Werdegang von Jay Z, die jeder Wahrscheinlichkeit spotten.
Die Bibliothek, geografisch wie ideell eine der zentralen kulturellen Institutionen von Jay-Zs Heimatstadtteil, hat ihr prachtvolles Hauptgebäude am Prospect Park bis Oktober nun ganz dem berühmten Sohn Brooklyns gewidmet. Die Texte, die in langen Bannern den Eingang bedecken, adeln den Rapper als bedeutsame literarische Figur, als "schwarzen Homer“, wie die Literaturwissenschaftlerin Nicole Hodges Persley ihn einmal bezeichnete.
In der großen Rotunde der Eingangshalle stößt man dann als erstes auf die Cover von Jay-Zs 14 Alben, von denen gleich mehrere, wie etwa "Watch The Throne“ oder "4:44," als das Formidabelste gelten, was der Hip Hop in seiner mittlerweile 50-jährigen Geschichte hervor gebracht hat. Bei Vergleichen mit weißen Künstlern werden immer nur die größten genannt, wenn man Jay-Zs Bedeutung zu beschreiben versucht. Aber selbst Namen wie die Beatles oder Bob Dylan werden dann als nicht ganz ausreichend empfunden.
Vom Crack-Dealer zur Rap-Legende
Die weiteren sieben Räume, welche die Bibliothek geschickt parallel zum alltäglichen Lesebetrieb Jay-Z gewidmet hat, beschäftigen sich dann jedoch weniger mit seinem künstlerischen Schaffen als mit seiner sensationellen Karriere. Es wird die Geschichte eines amerikanischen Traums erzählt, eine Geschichte, die sprachlos macht. "Jay und ich haben eines gemeinsam", hat Ex-Präsident Barack Obama einmal gesagt. "Niemand hätte uns je zugetraut, dass wir heute da stehen, wo wir stehen."
Wir werden mitgenommen in die Marcy Houses, in denen Jay-Z vaterlos mit seiner Mutter groß wurde und zunächst den gleichen Weg einzuschlagen schien, wie seine Altersgenossen, zu denen nicht zuletzt auch Biggie Smalls alias The Notorious B.I.G. gehörte. Jay-Z dealte mit Crack, er lebte das Gangster-Leben, in seinem Schulrucksack war immer eine automatische Waffe versteckt. Er liebäugelte mit einem der üblichen Wege aus diesen Verhältnissen, einer Karriere im Basketball, doch stellte bald fest, dass ihm dazu das Talent fehlte.
So blieb nur noch eine der milieuüblichen Alternativen zum Schicksal, im Gefängnis oder jung auf dem Friedhof zu landen: die Musik. Und in dieser Sparte war Jay-Zs Talent außerordentlich. In seine Kunst kann sich das Publikum der Public Library in einem Nebenraum versenken, wo 14 Plattenspieler mit seinen Alben aufgestellt sind, die mit Kopfhörern versehen sind. Der Rest der durchaus kulthaften Inszenierung konzentriert sich jedoch auf das, was seine eigentliche kulturelle Bedeutung ausmacht: Seinen Werdegang als Unternehmer. Immer wieder wird betont, dass das Aufnahmestudio für Jay-Z nur Mittel zum Zweck war, dass sein eigentliches Ziel immer das Eck-Büro war. Und es wird bis zum Überdruss gepriesen, mit welch sturer Zielstrebigkeit er darauf zusteuerte.
Niemals Grenzen akzeptieren
Jay-Z akzeptierte nie Grenzen, schon gar nicht jene, die ihm die US-amerikanische Gesellschaft aufgrund seiner race und sozialen Herkunft aufzeigte. Als er niemanden fand, der seinen Hip-Hop verlegen wollte, gründete er sein eigenes Studio. Und wie seine Zeitgenossen Russell Simmons oder P. Diddy beachtete er keine Schranken, als es darum ging, sein Musik-Unternehmen in einen Milliarden-Mischkonzern umzuwandeln.
Jay-Z legte ein Mode-Label auf und startete eine Nachtclub-Kette. Er managte Profi-Sportler und kaufte sogar einen Basketball-Club. Und als ein französischer Champagner-Fabrikant sich abfällig darüber äußerte, dass ein amerikanischer Hip-Hopper öffentlich seinen Tropfen trank, kaufte er direkt seine eigene Schaumwein-Marke.
Grenzüberschreitungen wurden gewissermaßen zu Jay-Zs Marke. Nachdem Oasis-Frontmann Liam Gallagher sagte, er wolle keine Rapper beim Indie-Festival Glastonbury sehen, coverte er dort auf der Bühne zur Begeisterung des Publikums den Oasis-Hit "Wonderwall". Und nachdem Hillary Clinton anfänglich nichts mit einem ehemaligen Drogen-Dealer zu tun haben wollte, genoss er umso mehr seinen Auftritt beim demokratischen Wahlkonvent 2016, als sie dankbar seine Popularität im Rennen gegen Donald Trump für sich in Anspruch nahm.
Eine ur-amerikanische Haltung
Für Jay-Zs Biografen Michael Eric Dyson ist der Unwille, Schranken und Konventionen zu respektieren und sich seinen Platz in der Gesellschaft einfach zu nehmen, wenn man ihn nicht zugeteilt bekommt, eine ur-amerikanische Haltung. Dyson nennt es den "Hustle“ – die Fähigkeit, alles für den Erfolg zu tun, was man eben tun muss, ganz gleich, ob man ein Schnapsbrenner aus den Appalachen ist, der zum bedeutendsten Getränkeunternehmer des Landes wird oder der "Ghettojunge" aus den Marcy Houses, der zur kulturellen Ikone reift. Es ist eine Eigenschaft, die letztlich Barack Obama genauso auszeichnet wie Donald Trump, Steve Jobs oder Mark Zuckerberg.
Für Jay-Z hat sie nicht zuletzt auch dazu geführt, dass er sich künstlerisch immer wieder neu erfinden konnte. So reflektiert er sensibel auf seinem letzten Album die toxische Maskulinität, von der er in seinen jungen Jahren als Gangster-Rapper ebenso affiziert war wie seine Kollegen. Auch das ein Tabu-Bruch innerhalb des Genres und der Subkultur.
Keine Grenzen zu akzeptieren ist dann auch die Botschaft, welche die Jay-Z Ausstellung an der Public Library den Menschen aus seinem Heimatviertel mitgeben möchte. Und auch, um diese Message an seine Community zurückzugeben, hat Jay-Z es nicht gescheut, Gepflogenheiten zu missachten. Die Show wurde durch großzügige Spenden seines Labels an die Bibliothek ermöglicht. Anrüchig findet das in Brooklyn offenbar niemand. Wie so oft bei Jay-Z nimmt man ihm ab, dass er genuin den Kontakt zu seinen Wurzeln sucht und es ihm nur in zweiter Linie darum geht, sich selbst ein Denkmal zu setzen. Letzteres hat er auch gar nicht mehr nötig.