Tausende kleiner Videoschnipsel flirren über den Bildschirm des TikTok-Feeds: ein buntes Mosaik aus Beauty-Hacks, Shopping-Tipps und Outfit-Checks. Zahlreiche Influencer:innen führen ihren Zuschauer:innen stolz blondierte Haare, pastellrosane Miniröcke und mit funkelnden Glitzersteinen besetzte Fingernägel vor: Spätestens seit dem Kassenschlager "Barbie" hat das Phänomen der "Hyperfeminität" Einzug in die feministische Bewegung erhalten. Doch ist das, was nun als Empowerment bejubelt wird, nur ein Rückfall zum traditionellen Ideal der "perfekten Weiblichkeit"?
Bei der Beantwortung dieser Frage kann zunächst der französische Philosoph Jean-Paul Sartre helfen. Sartres Philosophie setzt sich mit dem Individuum und dem Spannungsverhältnis zwischen Selbst- und Fremdbestimmung auseinander. Zur Verdeutlichung zieht er oft Negativbeispiele heran, in denen es Menschen nicht gelingt, autonom und frei zu existieren. Diese eignen sich besonders, um eine neue Perspektive auf die Hyperfeminität zu erlangen.
So beobachtet Sartre einmal einen Kellner: Dessen Haltung erscheint gradlinig, wie mit einem Lineal gezogen, sein Lächeln ein wenig zu charmant und seine Freundlichkeit zu einnehmend. "Er spielt, es macht ihm Spaß", schrieb Sartre. "Aber was spielt er? Man braucht ihn nicht lange zu beobachten, um sich darüber klarzuwerden: Er spielt Kellner sein." Sein Beruf ist kein bloßer Broterwerb, nein, der Mann identifiziert sich vollkommen mit seinem Dasein als Kellner und erhebt dieses zu seiner Essenz.
Identitäts-Nebel in feste Formen gesperrt
In seiner Philosophie betrachtet Sartre den Menschen als "in die Welt geworfen": Er besitzt keinen konkreten Wesenskern und ist somit dazu angehalten, sich selbst in seiner Freiheit zu entwerfen. Doch die Möglichkeit, aus all diesen möglichen Skizzen der eigenen Identität auszuwählen, führt zu einer tiefgreifenden Angst. Nach Sartre fliehen zahlreiche Menschen vor dieser Freiheit in die "Unaufrichtigkeit" – in eine soziale Rolle, die vom "Blick des Anderen", unserem Gegenüber, an uns herangetragen wird.
Wenn andere uns betrachten, reduzieren sie uns in der Fülle aller möglichen Ichs auf ein einziges. Sie sperren den Identitäts-Nebel in feste Formen und betrachten uns somit als Objekt. Durch den Blick des Gegenübers werden wir damit konfrontiert, was der andere wohl von uns denken könnte – eine Überlegung, die mit Angst, Scham und Unsicherheit verbunden ist. Für die betrachtete Person kann es deshalb erleichternd sein, dem Nebel ihrer Identität zu entfliehen und eine Rolle anzunehmen, die dem "Blick des Anderen" normal erscheint und die er nicht mit weiterer Aufmerksamkeit oder Bewertung straft.
Sartres Philosophie beinhaltet die Forderung an den Menschen, die eigene Identität zu konzipieren – fernab der Erwartungen, die andere Menschen an uns stellen. Vertreter:innen der Hyperfeminität scheinen jedoch genau das zu tun: Sie entfliehen der Möglichkeit, sich unabhängig von tradierten Geschlechterrollen zu entwerfen und füllen die Form ihrer rosanen Rolle mit Freude aus – einer Rolle, die in Hinblick auf den "male gaze", den männlichen Blick, konstruiert wurde.
"Männer handeln und Frauen erscheinen"
In den 1970er-Jahren entwickelte die Filmtheoretikerin Laura Mulvey das Konzept des "male gaze". Dieser beschreibt den männlichen, heterosexuellen, meist weißen Blick, mit dem Frauen und die Welt betrachtet werden. Weiblich gelesene Personen werden entlang der Präferenzen dieses Blicks als sexuelle Objekte inszeniert, deren Verhalten durch Unterwürfigkeit gekennzeichnet ist. In den letzten Jahren ist dieser Begriff – der ursprünglich aus der Filmtheorie stammt – in den alltäglichen Wortgebrauch übergegangen, da der "male gaze" einen großen Einfluss auf unsere Lebenswelt hat: Denn je nachdem, in welcher sozialen Rolle Menschen von der Gesellschaft gesehen werden und wie diese beispielsweise in Literatur, Film und Werbung dargestellt wird, lernen wir, welche Verhaltensweisen akzeptiert sind – und welche nicht.
Wenn kleine Mädchen ihre weiblichen Vorbilder immer in passiven Rollen und in objektivierender Weise repräsentiert sehen, nehmen sie dieses Weiblichkeitsideal mit der Zeit an, weil es soziale Anerkennung verspricht. Trainiert wird dabei nicht nur der Blick auf andere Frauen, sondern auch der auf sich selbst. Das beschrieb der Schriftsteller und Maler John Berger so: "Männer handeln und Frauen erscheinen. Männer betrachten Frauen. Frauen sehen zu, wie sie betrachtet werden. Dies bestimmt nicht nur die meisten Beziehungen zwischen Männern und Frauen, sondern auch das Verhältnis der Frauen zu sich selbst. Der Betrachter der Frau in sich selbst ist männlich, die Betrachtete ist weiblich. So wird sie selbst zum Objekt des Sehens: ein Anblick."
Während Sartre den Menschen auf einer individuellen Ebene dazu anhält, sich selbst frei zu entwerfen, betrachtet Mulvey die institutionell-gesellschaftliche Ebene. Für sie folgt deshalb auch eine Kritik dieses institutionell geprägten Blicks, indes Sartre den Einzelnen in seiner Feigheit kritisiert – ihm zufolge haben wir uns zu allem, was wir sind, entschieden.
Die Progressivität der Hyperfeminität
Auch aus der Perspektive der Dekonstruktivist:in Judith Butler muss die Hyperfeminität als eine Verkörperung normativer Weiblichkeitsbilder erscheinen. Sie betrachtet Geschlecht nicht als etwas, das man ist, sondern etwas, das man tut; als einen performativen Akt. Sie fordert deshalb ein bewusstes Brechen mit diesen Normen, um die Kategorie Geschlecht selbst aufzuheben – etwa, indem Transvestiten diese Normen parodistisch aufführen, um so auf die Konstruiertheit von Geschlecht hinzuweisen. Das Konzept der "Hyperfeminität" dagegen überschreitet die Geschlechtergrenzen gerade nicht, sondern treibt vielmehr das Weibliche auf die Spitze. Selbst wenn die Hyperfeminität also die soziale Konstruiertheit von "Weiblichkeit" anerkennt, verbleibt sie immer noch im System der "heterosexuellen Matrix", die Butler kritisiert.
Dennoch besitzt die Hyperfeminität eine individualistische Progressivität, die weder Sartre, noch die "male gaze"-Kritik Mulveys, noch Butler kennen: eine Selbstbestimmung, die so frei ist, dass sie sich sogar noch über den Vorwurf der Angepasstheit hinwegsetzt. Eine Frau, die das Weiblichkeitsideal verkörpert, kann in der Perspektive von Sartre, Mulvey und Butler nicht frei sein. Denn Freiheit wird immer in Gegensatz zu etwas gedacht: zum Blick der anderen, zum männlichen Blick, zum Patriarchat, zur heterosexuellen Matrix, gegen die rebelliert werden muss. Dabei zeigt sich jedoch, dass Dreh- und Angelpunkt dieser Perspektive noch immer das ist, was die eigene Freiheit behindert. Anders gesagt: Der Kern der Theorie von Butler und der "male gaze"-Kritik ist nicht die absolute Selbstbestimmung, sondern das Sicht-entgegen-Setzen.
Die ersten Wellen des Feminismus definierten sich entsprechend in vollkommenem Gegensatz zu traditionellen Weiblichkeitsbildern, was mit einer Abwertung derselben einherging – es handelte sich also um ein Aufnehmen des von der Gesellschaft propagierten Gegensatzes durch Verkehrung in sein Gegenteil. Dieses Vorauspreschen hatte den Zweck, Lebens- und Identitätsentwürfen außerhalb des Ideals wertvoll zu machen – jetzt, Jahrzehnte später, versucht die Hyperfeminität auch diesen umdefinierten Gegensatz aufzuheben und die Entscheidung über die eigene Identität den Individuen zu überlassen.
Von der "Freiheit von Zwängen" zu einer "Freiheit zur Selbstbestimmung"
Die Hyperfeminität geht von der "Freiheit von Zwängen" zu einer "Freiheit zur Selbstbestimmung". Die Feminität wird mit einem Stolz getragen, den die normative Frauenrolle nicht kennt. Sie ist auch keineswegs auf ein geschmeidiges Einfügen in die Gesellschaft angelegt: Die Übertreibung weiblicher Attribute wirkt beinahe karikaturistisch und hinterfragt dadurch den Blick des Betrachters, der eine zurückhaltend-passive Weiblichkeit erwartet und fordert. Auch die Ausdehnung der "Hyperfeminität" auf männlich gelesene und queere Personen, Women of Color und kurvige Frauen unterläuft den reduzierenden "male gaze"– und führt zu einer Neudefinition von Weiblichkeit.
Die "Hyperfeminität" tritt im Gegensatz zu einem bloßen Selbstentwurf à la Sartre oder einer absoluten Rebellion im Sinne Butlers in das Spiel mit dem Blick der Anderen ein: Sie bestätigt diesen durch die präsentierte Weiblichkeitsrolle und bricht ihn danach von innen auf – sie ruft eine kognitive Dissonanz hervor. Das Hinterfragen einer sozialen Rolle entsteht nicht durch einen völligen Gegenentwurf zu dieser, sondern durch das Spiel mit seinen Grenzen, die sich dadurch zunehmend im Nebel der Identitäten aufzulösen beginnen.