Autorin Katja Lewina

"Weibliche Lust bekommt in unserer Gesellschaft keinen Raum"

Katja Lewina hat ein Buch über weibliche Sexualität und die Tabus geschrieben, die noch immer damit verbunden sind. Ein Gespräch über Vulva-Darstellungen, Vorbilder in der Kunst und Masturbations-Performances

"Wie sexistisch ist unser Sex?", fragt die Autorin Katja Lewina in ihrem Buch "Sie hat Bock", das gerade erschienen ist. Ihre Antwort lautet "ziemlich sexistisch". Anhand von eigenen Erfahrungen, Studien und Beispielen aus der Kultur erzählt sie, wie weibliche Lust noch immer von Mythen und Tabus umgeben ist, die es vielen Menschen schwer machen, ihre eigenen Körper und ihr Begehren zu akzeptieren und ihre Wünsche auszuleben. Wir haben mit ihr gesprochen. 

Katja Lewina, ein großes Problem beim Sprechen über weibliche Sexualität ist immer noch, dass es kein unpeinliches Wort für das weibliche Geschlechtsorgan gibt. Haben Sie im Zuge Ihrer Recherche eins gefunden? 

Leider nein. Es gibt da beispielsweise das Wort "Vulvina", das aus "Vulva" und  "Vagina" zusammengesetzt ist – zwei Begriffen, die viele Menschen durcheinander bringen. Aber ganz überzeugt hat es mich nicht. Mir ist es einerseits zu niedlich, andererseits zu künstlich. Ich hoffe, dass unsere Töchter, die ja im besten Fall freier aufwachsen als die Generationen vorher, etwas Neues finden oder selbstverständlicher mit den Begriffen umgehen, die es gibt.

Das Gemälde einer gut einsehbaren Vulva von Gustave Courbet wird "Der Ursprung der Welt" genannt. Angemessen bedeutungsvoll oder zu romantisierend?

Es erinnert daran, was das weibliche Geschlechtsorgan eigentlich ist: Da kommen die Babys her, das ist eine unglaubliche Potenz, die gefeiert gehört. Aber immer noch schämen sich viele Frauen für ihre Vulven, die Flüssigkeiten, die sie absondern, für ihren Geruch. Dass Muschis nach Fisch stinken, war Konsens bei den Jungs auf meinem Schulhof. So etwas verunsichert zutiefst. Durch die vorherrschende Porno-Ästhetik denken viele Frauen, dass alles abstoßend und versteckenswert ist, was nicht wie bei einer Fünfjährigen aussieht. Insofern verstehe ich den "Ursprung der Welt" durchaus als Wertschätzung.

Der Sammler Khalil Bey hängte den "Ursprung der Welt" hinter einen VorhangSogar der Psychoanalytiker Jacques Lacan, dem das Bild zwischenzeitlich gehörte, versteckte es. Warum war eine Vulva so unzeigbar, während fast jede Skulptur einen sichtbaren Penis hat?

Antike Statuen von Männern zeigen zwar keine riesigen Prügel, aber immerhin etwas. Frauen hingegen brauchten meist ein Tuch um den Unterleib. Und in der Aktmalerei setzte sich das später fort, da wurde höchstens der Venushügel gezeigt. Man muss sich auch im Alltag nur mal umsehen, an jede zweite Klotür wird ein Penis geschmiert, aber die meisten von uns könnten eine Vulva gar nicht zeichnen. Der Raum, der dem weiblichen Geschlechtsteil in der Darstellung zugestanden wird, steht auch für den Raum, den wir der weiblichen Sexualität in unserer Gesellschaft zugestehen, nämlich gar keinen. Das sieht man auch an unseren Schönheitsidealen: Das weibliche Geschlechtsorgan soll möglichst klein, geradezu unsichtbar sein, während ein Penis nicht groß genug ausfallen kann. Dabei war das nicht immer so. Die älteste figurative Darstellung eines Menschen, die 35.000 Jahre alte Venus von Hohefels, zeigt eine Frau mit exorbitanten Schamlippen. Bis ins Mittelalter gab es solche Figuren, die für Fruchtbarkeit standen und lustvolle Frauen zeigen. Das wäre heute in der Form undenkbar.

1968 provozierte die Künstlerin Valie Export mit ihrer "Aktionshose Genitalpanik", die den Schritt freiließ. Auch viele andere Künstlerinnen beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit weiblicher Selbstermächtigung. Wollen Sie denen sagen, dass sich seit 50 Jahren gar nichts verändert hat?

Es gibt sicherlich Hoffnung. Trotzdem werde ich immer wieder von älteren Frauen gefragt, ob es sein kann, dass wir uns heute mit den gleichen Themen beschäftigen wie vor dreißig, vierzig Jahren. Ich höre oft den Satz: "Wir dachten, wir hätten das alles schon hinter uns gebracht, aber es scheint sich nicht so viel verändert zu haben". Ich glaube, es passiert alles in Zyklen, es geht sicherlich vorwärts, aber es ist mehr eine Spirale nach oben als ein stabil steigender Graph. Und das wäre ja auch sehr viel verlangt. Innerhalb von ein paar Jahrzehnten wird sich nicht alles ändern, was über Jahrtausende hinweg praktiziert wurde. Wie lange darf eine Frau überhaupt schon wählen oder ohne Erlaubnis ihres Mannes arbeiten? Wie lange darf sie ein eigenes Bankkonto haben und seit wann ist Vergewaltigung in der Ehe überhaupt strafbar? Das ist historisch alles ein Katzensprung. Wir müssen eben auch Geduld haben und die Ungleichheiten immer wieder ansprechen. So eine Hose würde auch heute noch zu Tode erschrecken.

Wenn man in die Kunst schaut, gibt es sehr viele Vorbilder für sichtbare weibliche Lust: Annie Sprinkle und Beth Stephens haben auf der Documenta 2017 Öko-Sex-Workshops gegeben. Rihanna macht auf der Bühne Masturbations-Pantomime. Ebnet die Kunst da einen Weg, oder ist sie so weit weg vom Alltag vieler Menschen, dass sie sich trotzdem nicht trauen, ihrem Partner oder ihrer Partnerin zu sagen, was sie mögen?

Es ist beides. Es braucht natürlich die Kunst, um solche Dinge zu enttabuisieren. Es ist doch ein wahnsinniger Fortschritt, wenn jemand wie Peaches oder Janelle Monae im Vulva-Kostüm auftritt. Es braucht Idole, die etwas vorleben und damit auch Menschen erreichen, die sich nicht mit Feminismus-Theorien beschäftigen und bei denen vielleicht auch die sexuelle Gleichberechtigung noch nicht angekommen ist. Deshalb bin ich überhaupt nicht dagegen, wenn Promis ihre feministische Gesinnung vor sich hertragen. Das bringt das Thema aus einer hippen, akademischen Großstadtblase heraus.



Kommt da noch ein Aber?

Es ist immer noch leicht, das alles als Inszenierung abzutun. Als etwas, das nicht echt ist. Es ist immer möglich, Kunst als etwas zu begreifen, das mit einem selbst gar nicht so viel zu tun hat. Ich merke das auch beim Schreiben. Wenn in Leitmedien fachliche Artikel über Sex erscheinen, ist das okay. So weit sind wir, dass das akzeptiert ist: Sex ist gesund, er soll allen Freude machen, es ist wichtig, dass er einvernehmlich ist, all das geht. Aber sobald man über sich selbst spricht – wie ich es tue –, empfinden es viele als eine Grenzüberschreitung. Das sind die heftigsten Reaktionen die ich bekomme: Warum musst du dich denn selbst so exponieren? Das mögen viele Menschen nicht. Uns fehlt diese Kultur, ehrlich und offen über die eigene Sexualität zu sprechen. Das heißt nicht, dass jeder alles öffentlich ausbreiten muss, es fängt doch schon in Liebesbeziehungen an, dass es für viele Menschen unmöglich ist, offen über die eigenen Wünsche zu reden.

Sie wollten für einen Selbstversuch in einem Monat 496 mal masturbieren. Das klingt eher konzeptuell als lustgesteuert. Haben sie das auch als eine Art Performance verstanden?

Ja, es war eher eine Kunstaktion als der Versuch, es tatsächlich zu schaffen. Die Idee ist eher aus einem Persiflagegedanken entstanden als aus einem echten Selbstfindungsinteresse. Damals ging es in den Medien gefühlt ständig um männliche Masturbation. Es gab da diese "No-Fab"-Bewegung, über die alle schrieben — Männer, die aufgehört hatten zu onanieren, um endlich coole Typen zu werden. Dann gab es plötzlich eine Art Gegenbewegung, die zu exzessiver Selbstbefriedigung aufrief. Von weiblicher Selbstbefriedigung aber kein Wort. Es ging mir um eine Enttabuisierung und eine zugespitzte Botschaft: Hey, Frauen können das auch.

Sie schreiben in Ihrem Buch davon, wie sie von einer alten Frau irritiert waren, die vom "Ficken" sprach. 2019 zeigte die Gewinner-Arbeit beim Preis der Nationalgalerie in Berlin unter anderem ältere Frauen nach der Menopause, die wieder zu bluten beginnen und Orgasmen haben. Ein Kritiker nannte das Werk danach " hingehunzte Weiberfastnacht". Provoziert weibliche Lust bei älteren Frauen noch mehr?

Das ist so unwürdig für diese alte Frau, dachte ich damals. Sexualität hat in unserer Vorstellung viel mit Fortpflanzung zu tun. Die Annahme, dass das Menschen im gebärfähigen Alter machen, ist sehr tief verankert. Alles, was hinterher kommt, ist ja von der Natur schon fast nicht mehr vorgesehen. Am Ende ist das Teil der generellen Tabuisierung von weiblicher Sexualität, die ältere Frauen einfach noch mal stärker betrifft. Alles Überschwängliche, öffentlich Ausgestellte wird verurteilt. Auch Sex außerhalb einer Zweierbeziehung provoziert immer noch. Ich habe in meinem Buch auch über Sex im Alter geschrieben – ein Alter, das ich selbst noch nicht erreicht habe. Und ich bekomme immer wieder Zuschriften von Frauen, die sagen: Sex wird ab 50 immer besser, freu’ dich drauf. Man denkt ja mit Anfang, Mitte 20, man sei auf seinem Peak, aber langsam bekomme ich eine Ahnung davon, was sie meinen. Es wird immer besser.

Es gibt ja immer wieder den Einwand, zu viel über Sex zu reden, würde einen Zauber oder ein Geheimnis zerstören …

So ein Bullshit. Das ist ein Einwand, der überwiegend von Männern kommt, die sich provoziert fühlen. Das ist auch bei meiner Arbeit so: Wer schreibt Hasskommentare, wer möchte mir das Schreiben verbieten? Das sind Männer, die denken: Sie überschreitet eine Grenze, so viel will ich gar nicht wissen, möge sie die Klappe halten. Bei diesem Argument des "zerstörten Zaubers" schwingt auch mit, dass man den anderen oder die andere gar nicht fragen will, ob er oder sie das jetzt gerade möchte. Als müsste alles aus einem nonverbalen Raum entstehen, in dem eh alles klar ist. Aber gerade das zementiert Machtverhältnisse. Und wir sehen durch die #MeToo-Debatte, wie oft Leute denken, sie dürften etwas, ohne das Einverständnis des Gegenübers zu haben. Man muss auch gar nicht von sexualisierter Gewalt sprechen, um all die kleinen Grenzüberschreitungen zu thematisieren, die vor allem Frauen kennen. Deshalb ist jedes Buch über weibliche Sexualität auch etwas für heterosexuelle Männer. Wenn man mit Frauen schläft, will man doch wissen, was bei ihnen passiert und was sie beschäftigt. Aber nach meiner Erfahrung meiden die meisten Männer das Thema wie die Pest.

Sie sagen, dass weibliche Lust normaler werden muss. Müssen wir jetzt so lange Vulven statt Penissen an jede Wand malen, bis es ausgeglichen ist?

Ich freue mich wie verrückt, dass es inzwischen so viele Vulva-Darstellungen gibt. Auch, weil ich selbst noch ziemlich verklemmt bin. Eine Bekannte hat mir neulich einen Vulva-Button geschenkt, und es war mir schrecklich unangenehm, den in der Öffentlichkeit spazieren zu tragen. Dass mich dieses visuelle Statement so sehr beschämt, zeigt mir aber, dass ich genau das unbedingt tun sollte. In meiner Straße wurden vor einiger Zeit Vulven an die Wände gesprüht, von denen nur ein paar übrig geblieben sind. Wenn ich an einer vorbei gehe, freue ich mich, weil es eine Vulva gegen gefühlt eine Million Penisse ist, die mich sonst im öffentlichen Raum begleiten. Ich wünsche mir, dass wir beides irgendwann nicht mehr nötig haben und Sexualität generell kein Tabu mehr ist.