Architekt Rem Koolhaas

"Ich finde es peinlich, dass wir Europäer uns als Ideal betrachten"

Rem Koolhaas baute für die Fondazione Prada in Mailand eine alte Destillerie um, nun gestaltet er dort die Ausstellung "Recycling Beauty". Hier spricht er über die Relevanz der Antike, Nachhaltigkeit in der Architektur und Projekte in Diktaturen 

Schönheit der Vergangenheit gegenwärtig werden lassen – darum dreht sich die neue Ausstellung "Recycling Beauty" in der Fondazione Prada. Kunstwerke aus der römischen und griechische Antike werden in einen zeitgenössischen Kontext gesetzt und so "wiederverwendet". Beim imposanten Prada-Art-Center in Mailand handelt es sich um einen Gebäudekomplex, der ebenfalls aus einer Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart entsprang.

Die ehemalige Gin-Destillerie aus dem Jahr 1910 liegt am Largo Isarco in einem Industriegebiet südöstlich vom Zentrum Mailands und wurde bis Mitte der 1970er-Jahre von der Società Distillerie Italiane genutzt. Knapp ein halbes Jahrhundert später schuf der niederländische Architekt Rem Koolhaas mit seinen Partnern Chris van Duijn und Ippolito Pestellini daraus den Sitz der Fondazione Prada. Den bestehenden Räumen wurde durch ihre geänderte Nutzung eine neue Bedeutung zugeschrieben, ihre historische Identität jedoch blieb präsent.

Nun hat Rem Koolhaas in ebendiesen Hallen die Umgebung für die von Salvatore Settis kuratierte Ausstellung "Recycling Beauty" designt. Dort wollte er einen Raum gestalten, "in dem sich eine intellektuelle Auseinandersetzung mit den Kunstwerken entfalten kann", wie es seine Einleitung ankündigt. Es ist nach "Serial Classic" und "Portable Classic" Settis' und Koolhaas' dritter Dialog mit antiker Kunst. Ein Vorteil, wie der Architekt betont, schließlich könne die Materie so tiefer durchdrungen werden.

"Jedes einzelne Stück, das Sie hier sehen, braucht Aufmerksamkeit", erklärt Koolhaas. Darauf ist auch die Ausstellungsarchitektur ausgerichtet. Im Podium etwa, einem weitläufigen, durch drei Glasfronten begrenzten Raum, können die Besuchenden auf Bürostühlen Platz nehmen und die auf dem Tisch vor ihnen liegenden Objekten eingehend studieren. In den miteinander verbundenen Räumen der Cisterna können die Ausstellungsstücke von verschiedenen Ebenen aus betrachtet werden. Bei der Vorbesichtigung der Schau haben wir Rem Koolhaas zum Gespräch getroffen. 
 

Rem Koolhaas, meist designen Sie ganze Gebäude. Nun haben Sie sich in der Fondazione Prada in Mailand auf Ausstellungsräume konzentriert. Inwiefern lässt sich hier das Besuchererlebnis anders steuern als in Gebäudekomplexen?

Im Raum- wie auch im Gebäudedesign hasse ich Zwang. Eine gewisse Freiheit sollte man als Publikum immer haben. In Gebäuden gibt es weniger Mittel, ohne Zwang zu erreichen, dass etwas genutzt wird, wie es auch gemeint war. Im Ausstellungsraum habe ich etwas mehr Steuerungspotential, aber auch nicht viel.

Wie sieht dieses Potenzial aus?

Mit den Bürostühlen etwa haben wir versucht, mit den Besuchenden zu interagieren. Ich hatte mir auch vorgestellt, dass man zwei Stühle nutzen kann, sodass es noch mehr einer Einladung gleicht, sich zusammen etwas anzuschauen. Ob sich die Besuchenden dort wirklich hinsetzen werden, bleibt jedoch abzuwarten. Es ist ein Experiment. Das ist das Schöne an einer Ausstellung, sie bleibt nur ein paar Monate, dadurch ist man freier zu experimentieren. Bei der ersten Ausstellung "Serial Classic" in der Fondazione Prada haben wir 2015 ebenfalls experimentiert. Salvatore Settis wollte zeigen, wie wenig originell die Römer waren, die Serialität ihrer Kunst aufzeigen, und wie die Skulpturen nach bestimmten Formeln gestaltet wurden. Trotzdem lag in ihrer Kunst eine unglaubliche Schönheit. Damals war es wichtig, eine Situation zu kreieren, in der der Fokus auf die Serialität deutlich wurde. So habe ich die Skulpturen von ihren Sockeln geholt, um sie auf Augenhöhe der Menschen positionieren zu können.

Viele der Kunstwerke, die in "Recycling Beauty" ausgestellt werden, sind tausende von Jahren alt. Was muss ein Gegenstand oder ein Kunstwerk Ihrer Meinung nach mit sich bringen, um nach so langer Zeit noch relevant zu sein?

Das Überleben eines Kunstwerks oder Objekts über so viele Jahre gibt ihm an sich schon eine Relevanz. Weil es nicht nur ein Kunstwerk, sondern auch eine Manifestation einer toten Zivilisation ist. Es ist schwierig zu entscheiden: Ist es ein Kunstwerk oder nur ein Beweis? Mir gefällt es sehr, dass es diese beiden Ansichtspunkte gibt.

In der Ausstellung "Recycling Beauty" werden antike Kunstwerke in einem neuen Kontext wiederverwendet. Übertragen wir nun den Begriff des Recyclings auf die Architektur: Eine Disziplin, die davon lebt, immer wieder Neues zu erschaffen. Wie könnte das zusammen funktionieren?

Eines ist sehr deutlich: Neues zu bauen wird mehr und mehr hinterfragt. Einen Weg, den die Architektur eingeschlagen hat, ist, mit schon bestehenden, verlassenden Bauten zu arbeiten. Wir brauchen ein Lehrmodell, wie man diesbezüglich in der Zukunft denken sollte. Es wird viel zu viel neu gebaut, aber es gibt meiner Meinung nach auch zu viele Bauten, die geschützt sind und nicht weiterentwickelt werden dürfen. Das ist eine interessante Spannung. Es wäre wichtig, dass wir mit diesen stillgelegten Gebäuden einen anderen Umgang finden. Ich bin und bleibe sehr an Recycling interessiert, auch durch ästhetische und soziale Argumente. Zum Beispiel diese Innenräume der Fondazione Prada hätte man so niemals neu kreieren können. Sie basieren auf dem Design der ehemaligen Hallen.

Wenn wir bei der Verknüpfung von Architektur und Moral bleiben, drängt sich eine Frage aktuell in den Vordergrund: Wie geht man als Architekt mit Anfragen für Bauten in autoritären Regimen um? Wie denken Sie über diesen kulturellen Austausch mit Diktatoren?

Ich habe in China, in Russland und in Katar gebaut, also in allen Ländern, die mehr und mehr als unsere Feinde angesehen werden. Ich finde es unglaublich peinlich, dass Europa sich so moralistisch präsentiert und jede Fähigkeit zur Diplomatie mit diesen Ländern eliminiert hat. Wir sind zusammen auf der Erde, und es ist sehr deutlich, dass wir zusammen ein Riesenproblem haben: die Klimakrise und ihre Bekämpfung. Dafür aber sind wir abhängig von China, von Russland und allen weiteren Ländern. Ich finde es peinlich, dass diese Abhängigkeit absolut ignoriert wird und dass wir Europäer uns als das Ideal betrachten und alles, was diesem nicht entspricht, kritisieren.

Aber es geht dabei doch auch um universelle Themen wie Menschenrechte.

Ich kritisiere natürlich auch viel in diesen Ländern, aber auch in unseren eigenen. Wie zum Beispiel den Umgang mit Geflüchteten. Zu Beginn des Ukraine-Kriegs wurden alle Ukrainer problemlos willkommen geheißen, Geflüchtete aus afrikanischen Ländern werden jedoch nicht akzeptiert. Ich finde es schrecklich, dass man das so hinnimmt. Ich verstehe all diese Argumente als eine Form der Diplomatie. Oder auch Projekte anzugehen, die nichts mit den Autoritäten zu tun haben, sondern die Geschichte des Landes widerspiegeln und wichtig für die Menschen in dem jeweiligen Land sind. Ich finde es notwendig, sich hier mit der Frage der Moral auseinanderzusetzen, aber die heutige Standardantwort darauf absolut nicht überzeugend.

Auch bei Ihrer Eröffnungsrede von "Recycling Beauty" haben Sie sich auf diesen vermeintlich idealistischen Ansatz bezogen. Das "politische korrekte Korsett" habe Sie bei der Arbeit mit antiken Objekten nicht so stark limitiert, Ihnen mehr Raum für einen spielerischen Ansatz gelassen. Wie haben Sie das gemeint?

Alles aus der Antike ist von der Definition her global. Es sind Arbeiten, die in der Türkei, in Afrika oder noch weiter entfernt hergestellt wurden. In der Ausstellung gibt es diesen kleine Farnese-Pokal, der über den ganzen Erdball gereist ist. Somit verkörpert er einen Zustand, der heute wohl nicht mehr zu erreichen wäre. Wenn man all diese Länder, die das Kunstwerk durchlaufen hat, betrachtet, wäre es heute vielleicht nicht einmal mehr möglich, sie zu betreten. Man muss sich nur die Einreisebestimmungen anschauen. Ich finde es sehr spannend, dass gewisse Elemente, die diese Ausstellung ausmachen, heute undenkbar geworden sind. Daher ist es für mich eine interessante Polemik, um zu zeigen, was ein aktiver, globaler Austausch zu tun vermag und wie schön es sein kann, aus unterschiedlichen Kulturen miteinander zu arbeiten.

In der Ausstellung wird mit der Antike gespielt. Sie liefert einen Kommentar zur aktuellen Situation, wie Sie in Ihrer Ansprache erklärt haben. Inwiefern hat Ihr Design dazu beigetragen?

Es geht in meinem Design vor allem um die Bemühung zur Verlangsamung. Für die Cisterna haben wir sehr intensiv daran gearbeitet, die Museen, deren Kunstwerke wir ausgeliehen haben, zu überzeugen, diese nicht so sehr zu beschützen, wie man es gewohnt ist. Kunstwerke reisen heutzutage fast so gut geschützt wie Politiker. Wir haben einige daher mit dem Status ausgestellt, in dem sie bei uns eingetroffen sind. Sie stehen etwa auf kleinen Plastik-Puffern, die als Schutz bei Erdbeben eingesetzt werden, um die Balance auf der Reise nicht zu verlieren. Ich fand es sehr interessant, all diese Materialien anzuschauen, die heute gebraucht werden, um Kunst zu schützen.

Was macht das mit der Kunst?

Das ist die Ironie der Kuratoren: Sie denken, ihre Hauptaufgabe sei es, die Kunst zu schützen. Doch damit besteht die Gefahr, dass sie immer weniger ansprechende Voraussetzungen für die Besuchenden schaffen. Viele Museen heutzutage sind extrem dunkel, da das Licht die Kunstwerke beschädigen könnte. Viele Kunstwerke sind hinter Glas. Also haben wir eine Menge der Beteiligten davon überzeugt, die Kunst so auszustellen, dass man sie berühren könnte, ohne jedes Problem. Das hat einen surrealen Effekt für mich. Sie können hier einem uralten romanischen Kunstwerk näher sein als einem Picasso.