Künstlerin Rachelle Cunningham

"Meine Fantasie hat mich gerettet"

Rachelle Cunningham verbindet träumerische Malerei, eindringliche persönliche Narrative und einen unerschütterlichen Glauben an die Kraft der Kunst. Mit Aquarell begann sie einst im Krankenhausbett, heute arbeitet sie mit Modehäusern wie Vivienne Westwood und bringt ihre Werke ins Musée de la Mode. Ein Gespräch über Schmerz, Fantasie und den Mut, durch Kreativität eine eigene Welt zu erschaffen


Rachelle Cunningham, Sie haben eine sehr vielseitige Herangehensweise an Ihre Kunst: Sie arbeiten mit Illustration, Malerei, kreativem Design, Dekoration und der Inszenierung Ihrer Arbeit in den sozialen Medien. Welche Rolle, würden Sie sagen, spielt das DIY-Element?

Oh, ich liebe diese Frage. Für mich bedeutet Kunst machen, eine ganze Welt zu erschaffen. Ich war 15, als ich anfing, Dinge mit meinen Händen zu kreieren, Collagen zum Beispiel und DIY-Kostüme. Es scheint ein Tabuthema zu sein, dass eine Künstlerin nur diese eine Sache sein soll, aber durch die sozialen Medien ist man in der Lage, seine ganz eigene Welt zu erschaffen. Das spielt eine Schlüsselrolle dabei, wie ich an die Dinge im Allgemeinen herangehe.

Hatten Sie denn vorher schon andere Instagram-Accounts?

Nein, das nicht, aber ich war auf Tumblr. Schon als ich vor meinem Kunststudium an der Parsons School of Design in New York Programmieren studierte, führte ich analoge Skizzenbücher, aber ich teile sie nicht mit meinen Followern. Ich habe einen ganzen Stapel dieser Bücher, sie sind wie eine Art Kern meines Schaffens. Sie sind sehr intim für mich. Wenn ich 80 bin, werde ich eine ganze Reihe dieser Bücher bei mir daheim haben – eine Art riesige Bibliothek.

Worin unterscheiden sich Ihrer Meinung nach die Skizzenbücher von den Kunstwerken, die Sie online teilen?

Die Bücher benutze ich fast wie Tagebücher. Sie handeln von meinen alltäglichen Erfahrungen, enthalten auch meine dunklen Gedanken. Aber auch große Träume, die ich habe. Sie sind nicht linear, nicht beschönt, es ist kein perfektes Bild, das man posten kann. Instagram ist ein Ort, der nach bestimmten Kriterien und Algorithmen funktioniert. Aber ich denke auch, dass es noch einen anderen Ort für die Kunst geben sollte, außerhalb davon. Einen Ort, in dem man auch solche Dinge online zeigen kann.


Ihre Malereien und Illustrationen sind sehr träumerisch. Sie zeigen nächtliche, glitzernde Soireen, üppig dekorierte Zimmer voller feenartiger Gestalten und mädchenhafte Schlossszenerien. Die Bildunterschriften und Textelemente auf Instagram nutzen Sie aber auch, um explizit über Ihre Biografie zu sprechen: Ihre Erfahrungen mit Endometriose, die Misshandlung durch das Gesundheitssystem. Wie sind Schmerz und Imagination für Sie künstlerisch verbunden?

Ich habe mit der Aquarellmalerei ja in einem Krankenhausbett begonnen. Und die sozialen Medien haben sich wie ein Tagebuch angefühlt, eine Möglichkeit, meine Reise und meine Träume zu dokumentieren. Wissen Sie, als ich die Welt der Kunst entdeckte, hatte ich so oft die Schule gewechselt, ich glaube, es war meine elfte. Damals war ich sehr wütend auf meine Eltern und hatte eine rebellische Phase, in der ich meine Kleider bemalte, den Unterricht schwänzte. Ich hätte fast keinen Abschluss gemacht. Als ich nach dem Studium wieder begann zu malen, lag ich im Bett und musste immer wieder ins Krankenhaus. Von der Endometriose-Diagnose wusste ich damals noch nichts, man unterstellte mir, ich würde mir die Symptome nur einbilden. Bis zu dem Punkt, dass sie mich sogar in eine psychiatrische Klinik einwiesen. Das war der schlimmste Zeitpunkt in meinem Leben, glaube ich. Das Einzige, das mir in diesem Zustand blieb, war meine Fantasie. Sie war immer da, egal, ob ich Schmerzen hatte oder nicht. Ich glaube, in diesem Moment habe ich dieses Gefühl entwickelt: "Fuck it, ich werde einfach denken, was ich will, auch wenn sie mich verrückt nennen". Wissen Sie, wenn man auf unbestimmte Zeit ans Bett gefesselt ist, dann denkt man darüber nach, was man möchte, und beginnen zu träumen.

Wie spiegelt sich das in der Kunst wider?

Die Bilder, die ich heute male, haben eine bestimmte Farbpalette: Es gibt auch dunkle Farben, aber ich benutze sie, um Licht daraus zu erzeugen, glitzernde Kronleuchter und Sterne. Das, von dem man mir gesagt hat, dass es der wahre Grund für mein Leiden sei – meine Fantasie –, ist das, was ich heute am meisten an mir liebe. Dank meiner Fantasie lebe ich das Leben, von dem ich damals nur träumen konnte: die Soireen, die Feste, all das, was ich nicht erleben konnte, als ich in einem Körper gefangen war, der mich manchmal vor Schmerzen bewusstlos werden ließ. Jetzt lerne ich durch meine Kunst all diese Menschen kennen und verbinde mich mit ihnen und ihrer Geschichte. Es ist unglaublich, was Kunst für einen tun kann, wenn man sie lässt. Kunst ist für mich einfach etwas Rohes und Ehrliches, und so benutze ich sie.

Vielen Dank, dass Sie mir so detailliert davon erzählen. Sie sind ja häufig mit Kritiker:innen konfrontiert, die Ihre Arbeit beispielsweise als naiv bezeichnen oder Ihnen vorwerfen, Ihre Erfahrung zu ästhetisieren, statt sie in ihrer Härte und Wirklichkeit zu zeigen. Da ist keine Grausamkeit, kein Mord, kein Blut, keine zerstörten Körper – würden Sie sagen, dass Ihre Arbeit eskapistisch ist?

Oh ja, das ist sie ganz sicher. Ich habe viel Schmerz erlebt, also möchte ich keinen Schmerz malen. Aber ich bin gerade dabei, ein bisschen anders darüber nachzudenken. Zum Beispiel entwerfe ich gerade eine überdimensionierte Arbeit – ein "Meisterwerk" –, das von den Frauen meiner Familiengeschichte handeln wird. Nach meiner Operation habe ich herausgefunden, dass sehr viele Frauen in meiner Familie furchtbare Uteruserkrankungen hatten, drei von ihnen hatten Hysterektomien, zwei hatten Eierstockkrebs. Meine Großmutter ist auch an Krebs gestorben, weil die Ärzte sie nicht ernst nahmen. Ich glaube, dass wir die Wunden der Frauen, die uns vorangingen, in uns tragen, und ich bin auf einer Mission, damit zu brechen. Hätte ich eine heranwachsende Tochter, würde ich niemals wollen, dass sie sich für ihren Körper schämen muss. Ich möchte, dass sie in ihrem Schmerz ernst genommen wird. Ich musste auch miterleben, wie meine Mutter schwer an Brustkrebs erkrankte. Dieses Gemälde, an dem ich jetzt arbeite, soll episch sein; es wird darin viel Wut, Schmerz, Flammen und Blut geben, aber auch sehr viel Schönheit.


Was Sie erzählen, erinnert mich an eine Stelle aus einem Text, den ich gestern gelesen habe. Er heißt "Die freien Frauen von 1832" von der Schweizer Historikerin und Philosophin Caroline Arni. Er handelt von "La Femme Libre", einer Pariser Zeitschrift, gegründet von Schneiderinnen und Stickerinnen, die ausschließlich Texte von Frauen veröffentlichte und die, wie Arni argumentiert, die eigentliche Wurzel der feministischen Revolution Frankreichs war. Die Stelle lautet: Wer aber hat zugehört? Wer hat zugehört, als Arbeiterinnen den Feminismus erfanden, als sie "Ich" sagten, "Ich bin" und "Ich bin frei", als sie zusammen, nicht immer und nicht in allem einig, aber in vereinter Anstrengung aus dem Wort "Frau", aus den müden Körpern ihrer Mütter, aus der Gewalt ihrer Jugend ein politisches Subjekt schöpften, indem sie ihre Entrechtung als Ausbeutung analysierten und die Enteignung der Mütter als Urszene aller Ausbeutung, auch derjenigen der Arbeiter?Glauben Sie, dass "Ich bin" zu sagen, für die Kunst einer Frau etwas anderes bedeutet? Und könnten Sie sagen, welche Rolle das "Ich" für Ihre Arbeit spielt?

Oh, das ist sehr schwer zu beantworten. Ich muss ein bisschen darüber nachdenken. Ich hänge gerade bei dem Gedanken, wie unglaublich furchtlos und draufgängerisch die Frauen von "La Femme Libre" gewesen sein müssen: wie sie dort zusammensaßen, um so etwas gemeinsam auf die Beine zu stellen. Ich liebe solche mutigen Frauen, die für sich selbst handeln, die nicht verbal definieren müssen, was oder wer sie sind, sondern die es für sich definieren, indem sie es leben. In gewisser Weise erinnert es mich auch an meine Arbeit mit Aquarellfarben. Sie sprechen so intensiv zu mir, und ich fühle mich von ihnen inspiriert. Ich drücke mich durch sie aus, weil ich selbst so eingeschränkt war mit meinem Körper: Aquarelle sind ein sehr schwer zu kontrollierendes Medium. Dieses Gefühl der Freiheit ist es, was, denke ich, in allem steckt, was ich tue … und dieser Aspekt der Frauen und ihrer Körper, ihre Verbundenheit mit den Körpern ihrer Mütter – wissen Sie, das fühlt sich oft wie eine solche Beschränkung an für das, was Frauen sein können. Ich möchte bald ein Video machen, in dem ich selbst performe und mit anderen Künstlerinnen kollaboriere. Ich denke, es ist, wie Arni schreibt: Wir sind so unterschiedlich und sind nicht immer einer Meinung, aber gerade diese Unterschiede müssen wir wertschätzen und uns in ihnen verbinden, wie diese Frauen es getan haben. 

Wie kann das gehen?

Was meine Kunst betrifft, ist mir klar: Es wird nicht jedem gefallen, aber meine Arbeit wird immer Freiheit für mich bedeuten – so zu sein, wie ich will. Als ich in diesem Bett lag, habe ich für mich eine Liste meiner Träume erstellt. Mit Vivienne Westwood zu arbeiten, war der letzte Punkt auf dieser Liste. Vivienne hat mich für meine Soloschau eingekleidet, und sie haben mir einen Brief geschrieben, dass sie lieben, was ich mache, was ich für Frauen tue. Nach der Ausstellung hat die französische "Vogue" dann einen Artikel über mich geschrieben, und ich konnte mit Lanvin, Chanel und Nina Ricci arbeiten. Und mit meinem Lieblingsmuseum, dem Musée de la Mode, wo meine Arbeit jetzt archiviert ist. Es ist wunderschön, dabei zuzusehen, wie meine Kunst sich mit mir entfaltet. 

Bekommen Sie viel Rückmeldung von Ihren Followern?

Ich bekomme jeden Tag Nachrichten von Frauen, die auch diagnostiziert wurden, was mich so stolz macht, meine Erfahrungen geteilt zu haben. Den Arzt, der mich schlussendlich operiert hat, habe ich über eine Frau kennengelernt, die mir auf Instagram geschrieben hat. Alles in meinem Leben ist auf der Grundlage dessen entstanden, was ich kreiert habe. Und das, obwohl so viele Menschen um mich herum mich tatsächlich glauben lassen wollten, es sei meine eigene Fantasie, die mich vergiftet. Aber sie war es, die mich gerettet hat. Es ist paradox und wunderschön zugleich, dass der Schmerz das ist, was einen am Ende retten kann.

Und diese Erfahrungen sind etwas, das Sie in Zukunft noch expliziter in Ihre Werke einfließen lassen wollen?

Ja, wissen Sie, es ist nicht so, als hätte ich keine Wut in mir. Eine Sache, die ich immer wieder und wieder gehört habe, war zum Beispiel: "Sie sind doch so hübsch, was macht da schon ein bisschen Schmerz?" Einmal habe ich mich eingeschlossen und geschrien, dass ich nicht gehen werde, bis ich ein MRT gemacht habe. Bis der Arzt irgendwann zu mir sagte: "Na gut, ich gebe Ihnen einen MRT-Scan, aber nur, damit Sie sich beruhigen. Sie brauchen einfach eine Therapie." Und ich sagte: "Ich bin bereits in Therapie." Das war wortwörtlich, was er zu mir sagte. Und dann? Drei Tage später bekam ich die Ergebnisse: eine zwölf Zentimeter große Zyste, eine 11 Zentimeter große Zyste … es sah schrecklich aus. Als sie mich dann endlich operiert haben, sagten sie mir, es würde eine Stunde dauern. Im Endeffekt verbrachte ich vier ganze Stunden im OP. Die Endometriose bedeckte meine ganzen Eingeweide. Meine Blase, meine Gebärmutter waren verklebt, ich hatte Blutknoten und eine geplatzte Zyste.

Wie haben Sie danach reagiert?

Nach all den Jahren endlich zu wissen, dass ich recht hatte, fühlte sich so ermächtigend an: Ich habe mit dem Geld, das ich mit meiner Kunst verdient habe, selbst für meine Operation gezahlt, ich habe mich selbst mit meiner Kunst gerettet. Und ich habe durch meine Kunst Vertrauen in mich selbst gewonnen, weil ich mich jetzt wie ich selbst fühle, bereit bin, mich auszudrücken, ohne Angst davor zu haben, als hysterische Frau oder Hexe bezeichnet zu werden. Ich habe eine Serie von Gedichten geschrieben, eines heißt "The Hysterical Woman", es war Teil meiner Ausstellung "Remove the Weeds to Plant a Seed", meiner ersten Soloschau vor zwei Jahren. Die Gedichte waren ein großartiges Ventil; ich wollte sie eigentlich in dem Katalog veröffentlichen, aber vielleicht mache ich das nächstes Jahr. Ich glaube, ich hatte einfach selbst Angst davor, wie viel Macht ich tatsächlich habe und was es bedeutet, mir selbst zu vertrauen. Aber jetzt ist es mir einfach egal.

Vielen Dank, Rachelle Cunningham. Noch eine Frage zum Schluss: Auf Instagram haben Sie kürzlich ein neues Projekt angekündigt, es heißt "House of Amaranthine". Könnten Sie dazu noch kurz etwas erzählen?

Sehr gerne! "House of Amaranthine" war ursprünglich meine Abschlussarbeit für meinen BFA in Art Media Technology an der Parsons School of Design. Als ich elf Jahre alt war, hatte ich sehr intensive Albträume. Immer, wenn ich traurig war oder große Angst verspürte, begab ich mich in dieses imaginäre Haus. Ich fühlte mich dort sicher und erlebte die wunderbarsten Abenteuer. Gerade fasziniert mich die Idee, es in einen tatsächlichen, mystischen Ort zu verwandeln. Einen sicheren Ort, an den Frauen kommen können, um gemeinsam ein Retreat zu organisieren, zum Beispiel. Ich arbeite bereits daran, es in einen Pariser Salon zu verwandeln, nur für Frauen, wo sie malen, Tee trinken und sich unterhalten können. Ich stelle es mir als einen Ort vor, der sehr ästhetisch ist, wirklich und unwirklich zugleich.