Neue Rektorin der Städelschule

"Momentan müssen Pläne mit dem Bleistift geschrieben werden"

Am 1. April trat Yasmil Raymond ihren Posten als Rektorin der Städelschule in Frankfurt an. Was hat sie vor mit dieser Institution, die zu den renommiertesten Kunsthochschulen der Welt gehört?

Yasmil Raymond, Sie sind seit 1. April die neue Rektorin der Städelschule und Direktorin des Portikus. Unter Bedingungen, die keiner vorhersehen konnte. Wie war ihr erster Tag?

Das Erste was mir klar wurde: Momentan müssen Pläne mit dem Bleistift geschrieben werden. Ich war den ganzen Tag in Videokonferenzen und ganz altmodisch am Telefon, und habe diesen produktiven Tag um 18 Uhr 30 mit einer Email an alle Studierenden beendet, um sie zu begrüßen. Der Betreff war: "First Things First on April First." Ich wollte den Studierenden versichern, dass wir an sie denken und dass wir Ideen entwickeln, wie wir nun beginnen können.

Wie denn?

Das Sommersemester beginnt am 20. April online. Im Moment sind alle Ateliers und Werkstätten geschlossen. In der vergangenen Woche habe ich mit allen Professoren und den Leitern der Werkstätten gesprochen. Es wurden bereits verschiedene Formate an Online-Kursen entwickelt. Es wird also eine Phase online geben, mit viel Lesen, Meetings und Konversationen über Videoplattformen, und dann kehren im Juni hoffentlich alle in die Hochschule und Ateliers zurück.

Werden Sie selbst auch online unterrichten? Was ist Ihr Fokus?

Ich unterrichte in Curatorial Studies, auch die Kunst- und Architekturstudierenden können teilnehmen. Es ist ein Kurs für die Absolvierenden, indem es um die Realität nach der Hochschule geht. Ich weiß nicht, ob Sie sich an den Film aus den 1990ern erinnern, "Reality Bites"?

Natürlich, Winona Ryder als Videokünstlerin, die Generation X!

Angelehnt an den Film habe ich den Kurs "Reality Bites" genannt. Es geht um Themen wie Ausstellungen machen, ein Atelier einrichten, die Realität des Kunstmarktes, und Fragen von Zensur, Vandalismus und Copyright. Eine Art Erste-Hilfe-Kurs, bevor man in die Welt hinausgeht. Den ich mir aber schon vor der Krise ausgedacht hatte.

Sie haben selbst in Chicago Kunst studiert und sagten kürzlich, was Sie sehr schnell gelernt haben, war: Teilnehmen. Da sein. Präsenz zeigen.

Wie wichtig es ist, Präsenz zu zeigen, habe ich vor allem von Thomas Hirschhorn. 2013 war ich Kuratorin des "Gramsci Monument". Wir waren 77 Tage von 10 bis 18 Uhr in der South Bronx und boten unsere Gegenwart an. Thomas nannte es "presence and production". Ein Prinzip, das er schon sehr lange praktiziert: Kunst machen und gleichzeitig da sein. Es hat nichts mit der Idee einer Fabrik zu tun, wo jeder ein Teil eines Ganzen produziert. Das ist es nicht. Es waren Leute mit uns da, die gar nichts taten. Ich spreche von der schieren Präsenz eines Körpers, eines Gesichts, der Gesten.

Ein Angebot, nach dem niemand gefragt hat.

Ganz genau. Normalerweise denken wir, etwas für uns selbst zu tun, heißt, es nicht für andere zu tun. Man kann es auch anders sehen. Mein Prinzip hier ist beispielsweise: Ich brauche die Städelschule genau jetzt in meinem Denken, in meiner Beziehung zur Kunst, in meiner Entwicklung. Es war Zufall, dass die Stelle des Rektors ausgeschrieben wurde. Das habe ich von Thomas gelernt: die Energie auf etwas zu richten, das man selbst braucht. Denn dann ist die Chance für aufrichtige Situationen und Begegnungen sehr groß.

Das, was wir gerade im Moment alle sehr vermissen.

Ja, das stimmt. Ein anderes Erlebnis damit, sich auch physisch aufeinander zu beziehen, hatte ich, als ich neu am MoMA war. Die Kuratorin für Performance, Ana Janevski, hatte eingeladen. Plötzlich bekam ich diese Email: "Freiwillige gesucht für die Tanzgruppe von Jérôme Bel." Tanzen ist eine Passion von mir. Ich mag keine großartige Tänzerin sein, aber ich weiß ein bisschen was. Man sollte ihm ein Video zusenden, wie man zu einem Song tanzt. Dann entschied er, ob man dabei ist, und dann als Leader oder als Follower.

Es war ein Kurs vor Publikum?

Vom Prinzip her wie ein Aerobic-Kurs. Er brauchte zehn anleitende Personen, und eine davon war ich. Was mich total überraschte, war die Wirkung, die das Werk auf das MoMA hatte, indem 800 Leute arbeiten. Als Zuschauer sieht man nur Leute, die tanzen und gut drauf sind. Aber ist man Teil der Dance Group, dann wird man zu Freunden. Es entsteht eine Intimität, die ich ganz vergessen hatte. Es waren Leute vom Besucherservice in der Gruppe, von der Security, Wärter, Leute aus dem IT-Bereich, Kuratoren, Chefkuratoren ... alle mit verschiedenen Fähigkeiten. Und der große Teil der Zuschauer kam aus den eigenen Reihen. Die Sache war nach innen gerichtet und hatte eine große Langzeitwirkung.

Was dachten Sie über die Städelschule, welche Berührungspunkte gab es, bevor sie nach Frankfurt kamen?

Die Zeit, in der Daniel Birnbaum Direktor war, ist für mich prägend. Als junge Kuratorin des Walker Art Center reiste ich nach Brasilien auf die São-Paulo-Biennale, auf der Werke von zwei Absolventen der Städelschule gezeigt wurden: Tomás Saraceno und Haegue Yang. Es zeigte mir die Wichtigkeit einer internationalen Perspektive auf die Kunstwelt. Mit Tomás kam ich schnell in Kontakt, denn wie er spreche ich Spanisch, da ich aus Puerto Rico komme. Und Haegue Yangs Namen hatte ich von einem Kollegen am Walker gehört. Ich war gewissermaßen entsandt worden, um ihr Werk in Augenschein zu nehmen und herauszufinden, ob es für die Sammlung des Museums angekauft werden sollte.

Sie kamen aus Minneapolis im Mittleren Westen der USA nach Brasilien, um das Werk der koreanisch-stämmigen Haegue Yang anzusehen, die an der Städelschule in Frankfurt studiert hatte, und fragten Sie sich nicht, wo das eigentlich ist?

Ich dachte, was ist das wohl für eine deutsche Kunsthochschule, an der solche internationalen Leute studierten? Zufällig ging ich kurz danach nach Berlin, um Atelierbesuche zu machen. Da war der Städelabsolvent Sean Snyder, der ja Amerikaner ist. Ein US-Expat, der es hier geschafft hatte zur Städelschule zu gehen. Oder Haegue, die Deutsch sprach, Tomás lernte auch Deutsch – ich fand das außergewöhnlich. Anders herum war es ganz gewöhnlich, denn ich kannte viele Deutsche, die in den USA studierten. Aber plötzlich war klar für mich, dass dort ein paralleles System existiert, das unabhängig war von allem, was ich von Kunsthochschulen in den USA kannte.

Was unterscheidet dieses parallele System?

In den USA haben sich die Kunsthochschulen sehr weit entfernt von den Ideen, die ursprünglich ja auch mal aus Deutschland importiert worden waren, wie beispielsweise unterschiedliche Aktuere des Bauhaus, unter ihnen Hans Hoffmann, Mies van der Rohe, Moholy-Nagy und Josef Albers. Ihre Methoden der Lehre hatten einen großen Einfluss. Davon ist nicht mehr sehr viel übrig, in den 1970er- und 1980er-Jahren hat sich viel in den USA geändert. Die Kunsthochschulen mussten wirtschaftlich funktionieren, da es keine staatliche Förderung gibt. Das bedeutete Kompromisse, Freiheiten wurden geopfert, die Studentenzahlen mussten wachsen. Was mich in Europa verblüfft: Wie klein die Hochschulen geblieben sind. Das ist sehr sinnvoll für die Qualität des Kontakts, der Beziehungen und Erfahrungen – es gibt eine andere Intimität.

Die Ausbildung in den USA ist viel teurer, wie wirkt sich das aus?

Es ist eine größere finanzielle Herausforderung. Ich habe eine solide Ausbildung in Chicago genossen, aber sie hatte ein großes Preisschild. Nur sehr Wohlhabende konnten es sich leisten. Working-Class-Mitglieder wie ich mussten bereit sein, sich zu verschulden. Es ist ein großer Widerspruch, einen Kredit aufzunehmen, um frei zu werden, um zur Hochschule zu gehen.

Philippe Pirotte tat in seiner Amtszeit hinter den Kulissen eine Menge dafür, der Städelschule diese Freiheit zu erhalten, indem er sie an das Land Hessen übergeben hat.

Ich habe großen Respekt davor, dass er gemeinsam mit seinem administrativen Team geschafft hat zu sagen: Lasst uns unsere Zukunft selbst sichern, in der Hoffnung, dass das Land Hessen auf lange Sicht progressiv und interessiert an zeitgenössischer Kunst bleibt. Die neue Situation gewährt uns viele Freiheiten, aber diese sind auch mit einer großen Verantwortung verbunden. Wir hoffen, dass es für beide Seiten eine Bereicherung ist.

Zweifeln Sie daran?

Nein, ich bin überzeugt von Frankfurt als einer sehr internationalen Stadt, die ihre Kunstszene und deren Möglichkeiten gut versteht. Studierende und Akteurinnen suchen hier nach einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Kunst. Die Stadt und das Land verstehen, dass es eine Win-Win-Situation ist, Kunstinstitutionen und damit künstlerische Innovation zu fördern.