Meron Mendel, Sie waren im Sommer 2022 Berater der Documenta Fifteen, haben sich aber wenige Wochen nach der Eröffnung zurückgezogen, weil Sie nach dem Auftauchen der antisemitischen Darstellung auf dem Taring-Padi-Banner einen "ehrlichen Dialog" vermisst haben. Mussten Sie sehr überredet werden, sich für Ihr neues Buch "Kunst im Streit" noch einmal so intensiv mit der Documenta auseinanderzusetzen?
Nein, überhaupt nicht. Es war ein intrinsisches Bedürfnis. Ich hatte das Gefühl, ich brauche das auch für mich, um das Ganze erst mal persönlich, aber auch wissenschaftlich Revue passieren zu lassen und zu reflektieren, was da eigentlich in diesen Sommermonaten 2022 in Kassel abgelaufen ist. Ich habe mich sehr gefreut, dass Heinz Bude auf diese Idee angesprungen ist. Wir haben unterschiedliche Perspektiven: Ich als Historiker und Pädagoge, er als Soziologe. Er als jemand, der die Binnenperspektive aus Kassel hat und ich aus der "Ferne" in Frankfurt.
Sowohl Sie als auch der Gründungsdirektor des Documenta-Instituts Heinz Bude sind einerseits Wissenschaftler - aber eben auch Protagonisten der Debatte um die Documenta Fifteen. Den Anspruch, dass die Wissenschaft nun endlich ganz objektiv erklärt, was da in Kassel passiert ist, kann man also gleich wieder beerdigen, oder?
Als Sozialwissenschaftler sind wir immer in den Gegenstand unserer Forschung involviert. Wenn jemand etwas anderes erzählt, lügt er. Es geht nicht darum, objektiv in dem Sinne zu sein, dass man gar keine Verstrickungen hat, sondern vielmehr darum, diese Verstrickungen zu reflektieren. Insofern ist das eine Art von Brille, die wir aufsetzen und die eine Korrektur hat. Also wenn ich weiß: Ich habe diese Befindlichkeiten oder diese Verstrickungen, dann setze ich die Brille auf, die genau diese Verzerrung korrigiert und uns vielleicht nicht einen hundertprozentig objektiven, aber auf jeden Fall multiperspektivischen Blick auf den Gegenstand garantiert. Wir haben das Buch als eine Art Mosaik konzipiert. Es ist keine Monografie, sondern wir haben Autorinnen und Autoren angefragt, die auch in ihren Positionen, Blickwinkeln und Biografien unterschiedlich sind.
Inzwischen ist schon der Begriff "Documenta" zu einer Chiffre geworden, mit der jeder etwas anderes meint. Die einen benutzen ihn – leicht verkürzt gesagt – als Beweis für einen vermeintlich antisemitischen Kunstbetrieb, den man einhegen muss. Die anderen benutzen die Documenta als Fanal für eine rassistische deutsche Mehrheitsgesellschaft, die Antisemitismus auf den "Globalen Süden" projiziert und sich dadurch der Verantwortung für koloniale Verbrechen entzieht. Muss man sich den Blick auf den Forschungsgegenstand Documenta erstmal wieder freischaufeln?
Ja, absolut. Und wir haben absichtlich eine Art naiven Blick angenommen. Wir haben keine großen Thesen aufgestellt, sondern uns auf sehr viel empirisches Material gestützt und uns beispielsweise detailliert die Berichterstattung über die Documenta angeschaut. Dann haben die Autorinnen und Autoren mit den Leuten vor Ort gesprochen, mit den Besuchern der Documenta, mit den Menschen in Kassel, die auch unterschiedliche Rollen hatten: als Verteidiger der Documenta, weil sie eine Art von Lokalpatriotismus damit verbinden, oder wie das Sarah-Nussbaum-Zentrum, das eine jüdische Perspektive repräsentiert. Auch Künstlerinnen und Künstlern kommen zu Wort. Gerade diese sehr basale empirische Arbeit hat uns geholfen, die Aufladungen zu dekonstruieren und zu sagen: Worüber sprechen wir eigentlich, was war da los? Und uns nicht auf diese Blasen zu beziehen, die "Documenta Fifteen" einfach nur als Synonym für X oder Y nutzen.
Von wem wünschen sie sich, dass er oder sie dieses Buch liest?
Uns ist bewusst, dass eine wissenschaftliche Publikation für manche eine Hürde ist. Trotzdem ist es auch ein Buch, das ein breites akademisches und kunstinteressiertes Publikum anspricht. Wir sind an einer Schnittstelle zwischen denjenigen, die sich wegen der Kunst für die Documenta interessieren, und denen, die sich für die Documenta Fifteen interessiert haben, weil sie in den vehementen gesellschaftlichen Debatten – einige würde sagen: im Kulturkampf – um die Ausstellung involviert oder davon bewegt sind.
Im Buch wird immer wieder deutlich, dass im Rahmen der Documenta Themen verhandelt wurden, die nicht nur mit Kunst, sondern mit der ganzen Gesellschaft zu tun haben. War an dem Documenta-Skandal eigentlich etwas Documenta-Spezifisches? Oder hätte sich der Streit auch anderswo entzünden können?
Meine Theorie ist, dass vieles daran der Corona-Pandemie geschuldet ist, denn wir hatten im März 2020 die Mbembe-Debatte …
… dabei ging es darum, ob der kamerunische Politikwissenschaftler Achille Mbembe die Ruhrtriennale eröffnen darf. Es gab Forderungen, ihn auszuladen, weil er die antiisraelische Boykottbewegung BDS unterstütze und die israelische Politik mit der Apartheid in Südafrika verglichen habe …
Dieser Streit wurde nicht zu Ende geführt, weil die Corona-Pandemie dazwischenkam und die gesamte Ruhrtriennale 2020 abgesagt wurde. Das heißt, wir hatten schon zwei Lager, die sich formiert hatten. Sie standen schon in den Startlöchern und wollten diesen Konflikt austragen. In dem Moment, als die Corona-Pandemie so weit zu Ende war, dass wieder öffentliche Kunst- und Kulturveranstaltungen stattfinden konnten, kam die Documenta mit einer ähnlich gelagerten Situation: Wie Mbembe wurden auch die indonesischen Documenta-Kuratoren von Ruangrupa als Vertreter des sogenannten Globalen Südens gesehen, denen Antisemitismus unterstellt wurde. Deswegen war schon im Vorfeld die Situation so angespannt, weil sich ein bereits schwelender Konflikt fortgesetzt hat.
Würde das heißen, Anlass und Protagonisten für diesen Konflikt waren austauschbar?
Soweit würde ich nicht gehen, das wäre eine grobe Vereinfachung und Übertreibung. Und damit würde man auch Ruangrupa aus der Verantwortung entlassen. Aber wir sehen, wie komplex die Dynamik ist, besonders seit der BDS-Resolution des Bundestages von 2019 und der Ernennung eines Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung. Das war auch ein Novum zu dieser Zeit. Und dann hat man auf einmal einen Ankläger, der mit der Rückendeckung dieser Resolution aus der Bundesregierung kommt, auf der Suche nach echtem oder vermeintlichem Antisemitismus. Auf der anderen Seite hat man hier mit einer gewissen Verspätung wahrgenommen, dass tatsächlich in Teilen der muslimischen Welt eine Schnittmenge zwischen der Feindschaft gegenüber dem Staat Israel und der Nutzung von uralten antisemitischen Stereotypen und Denkmustern besteht, deren Ursprünge mehrheitlich in Europa zu finden sind. Das ist das Grundproblem, das erstmal über die einzelnen Protagonisten hinausgeht.
Und was war das Spezifische?
Es spielt natürlich eine Rolle, wie die Akteure in der spezifischen Situation handeln. Und da kann man durchaus sagen: Sowohl Ruangrupa als auch die Documenta-Leitung hätten Handlungsmöglichkeiten gehabt, die Situation zu entschärfen. Im Buch gibt es auch Analysen aus organisationssoziologischer Perspektive, die zeigen, dass gerade diese Maßnahmen zur Entschärfung der angespannten Ausgangslage nicht getroffen wurden.
Ein Beitrag, an dem Sie mitgeschrieben haben, analysiert die Debatte in den großen deutschen Zeitungen. Es gab immer wieder den Vorwurf, der Skandal sei vor allem eine Medienkampagne gewesen. Wie ist Ihre Analyse?
Wir haben keine Medienkampagne festgestellt, denn wir haben immer noch eine sehr diverse Medienlandschaft in Deutschland. Und auch in den verschiedenen Medienorganen gibt es unterschiedliche Positionen.
Im Text findet sich allerdings der schöne Satz: "Die Debatte wurde von weißen Männern dominiert".
Die deutschen Feuilletons sind dominiert von bestimmten Altersgruppen und Menschen, die aus bestimmten Milieus kommen. Gerade Perspektiven von Menschen aus dem "Globalen Süden", die selbst beteiligt waren, kamen relativ wenig zur Geltung. Und wenn, dann verspätet. Wir konnten nicht zuverlässig feststellen, was die Ursache ist. Ein Erklärungsansatz wäre, zu sagen: Es gibt Gatekeeper, die ihnen das nicht erlauben, also in Form von Chefredakteuren und so weiter.
Und gibt es noch andere?
Eine andere wäre: Es gibt auch bei diesen Gruppen eine gewisse Hemmschwelle, Ängste oder fehlende Bereitschaft, an dieser Debatte aktiv teilzunehmen. Schon im Vorfeld der Documenta gab es sehr viele Medienanfragen an Ruangrupa, übrigens nicht nur in Bezug auf die Antsemitismus-Vorwürfe, sondern insgesamt. Ich kann mich erinnern, dass die damalige Generaldirektion und die Öffentlichkeitsabteilung sehr restriktiv waren, wer mit Ruangrupa überhaupt sprechen durfte, und wenn, musste immer jemand von der Öffentlichkeitsarbei dabeisein. Es scheint hier ein gegenseitiges Misstrauen gegeben zu haben, schon im Vorfeld. Es ist wichtig zu betonen, dass das schon so war, bevor der Skandal durch das Taring-Padi-Banner voll ausgebrochen ist. Wenn man schon von Anfang an dieses Misstrauen hat, ist es dann in der Krise noch schwieriger, wieder Vertrauen aufzubauen. Also kurz gefasst können wir sagen: Ja, die Menschen, die Positionen aus dem Globalen Süden vertreten, waren viel zu wenig in den deutschen Feuilletons als Autorinnen und Autoren, also als eigene sprechende Personen, vertreten. Wir können aber nicht sagen, wer daran schuld ist.
Der Untertitel des Buches lautet "Antisemitismus und postkoloniale Debatte auf der Documenta Fifteen". Nun gab es aber bereits Kritik, dass postkoloniale Perspektiven auch hier zu kurz kommen.
Man muss verstehen, was hier der Forschungsansatz ist. Wir haben nicht Leute gesucht, die zu 50 Prozent anti-postkoloniale und 50 Prozent pro-postkoloniale Theorien befürworten. Das wäre ein Debattenbeitragsbuch, was auch legitim ist. Aber in dem Fall haben wir Forscherinnen und Forscher genommen, die ihre Expertise sowohl in der Antisemitismusforschung als auch in der postkolonialen Theorie haben. Das sind Leute, die sich durchaus mit postkolonialen Theorien auseinandergesetzt, dazu geforscht und publiziert haben. Insofern finde ich, dass dieser Vorwurf auf gewisser Unkenntnis basiert.
Seit der Documenta wurde der Kunstbetrieb auch von den teils sehr heftigen Debatten nach dem 7. Oktober 2023 erschüttert, die die Lagerbildung gefühlt noch verstärkt haben. Würden Sie sagen, dass der Diskurs über Antisemitismus in Deutschland konstruktiver oder noch destruktiver ist als vor der Documenta Fifteen?
Natürlich hat der 7. Oktober eine Debatte, die schon überemotionalisiert war, noch zehnfach verstärkt - einfach durch die unmittelbare Betroffenheit und die schrecklichen Geschehnisse, die einmal in Israel und dann bis heute in Gaza stattfinden. Von einer Beruhigung zu sprechen, wäre vermutlich falsch. Nichtsdestotrotz habe ich das Gefühl, vielleicht bin ich auch ein bisschen naiv, dass die breite Öffentlichkeit gewisse Müdigkeitserscheinungen gegenüber der Vehemenz und der Polarisierung zeigt, die diese Debatte mit sich bringt. Ich war in den letzten anderthalb Jahren wirklich an sehr vielen Orten in der Bundesrepublik, in sehr vielen Kunst- und Kultureinrichtungen, aber auch in jüdischen und muslimischen Communitys und in linken Zentren. Daher kommt das Gefühl, dass eine große Mehrheit von Menschen einfach satt von dieser Forderung ist, das eine Narrativ oder das andere Narrativ völlig übernehmen zu müssen. Es gibt eine Suche und den Wunsch nach Differenzierungen, nach Grautönen, nach mehr Substanz und weniger Polemik und blame game. Unser Buch will genau das anbieten.
Kunstinstitutionen scheinen bei kontroversen Werken oder Positionierungen von Künstlern zunehmend auf das Prinzip agree to disagree zu setzen. Das heißt, strittige Aussagen oder Kunstwerke dürfen stattfinden, die Institutionen können sich aber davon distanzieren. So war es bei Nan Goldin in der Neuen Nationalgalerie, so steht es auch im neuen Code of Conduct der Documenta. Ist das gerade die bestmögliche Lösung? Oder letztlich auch wieder eine Verweigerung der Auseinandersetzung?
Ich finde, damit entzieht man sich nicht, sondern bringt gerade den Diskurs weiter. Ich habe schon während der Documenta festgestellt, dass es ein großes Missverständnis gibt, was Zensur oder Einschränkung der Kunstfreiheit ist. Zensur ist, wenn der Staat eingreift, und etwas verbietet. Aber es ist keine Zensur, wenn eine Gegenposition offen vorgetragen wird. Das nennt man Diskurs. Wenn man gerade als politische Künstlerin – wie Nan Goldin – dezidiert politische Botschaften in die Welt setzt und sagt, ich verstehe meine Kunst als Aktivismus, und dann zugleich die Erwartung hegt, dass kein Gegenwind oder Widerspruch kommen darf, ist das eine zutiefst antidemokratische – und ich würde sagen: kunstfeindliche – Vorstellung.
Es gab aber auch Fälle, in denen Ausstellungen auf politischen Druck abgesagt oder Künstler ausgeladen wurden.
Das stimmt. Ich sage nicht, dass es keine Zensurversuche gab. Aber ich sage, dass in der Wahrnehmung von Künstlerinnen und Künstlern oft diese zwei Sachen zu einer gemacht wurden. Also die berechtigte Angst und den Widerstand gegen reale Zensur und auf der anderen Seite der Anspruch auf Widerspruchsfreiheit. Da wollen dann auf einmal Künstlerinnen und Künstler bestimmen, wer sprechen darf und wer nicht. Und deswegen sehe ich die Herausforderungen in beide Richtungen. Richtung Politik und Staat ist zu sagen: Die Kunstfreiheit ist ein hohes Gut. Verbieten, Abhängen, Ausladen, das alles darf nicht geschehen. Und in Richtung der aktivistischen Künstler sollte man dann auch die Position vertreten: Ihr habt nicht die Hegemonie. Es dürfen, sollen und müssen auch andere Positionen vertreten sein, das gehört auch zur Kunstfreiheit. Und ich merke, dass man an diesen beiden Fronten hart zu kämpfen hat.
In Kassel wurde das Taring-Padi-Banner mit der antisemitischen Figur schließlich abgehängt. Im Nachhinein alternativlos oder ein Fehler?
Ich habe viel darüber nachgedacht. Ich bin mir nicht mehr so sicher.
Man kann beobachten, dass das Thema Antisemitismus zunehmend von konservativen bis rechten Akteuren genutzt wird, um den Kulturbetrieb allgemein zu delegitimieren. Das extremste Beispiel ist sicher Donald Trump, der Universitäten Mittel streicht, weil sie jüdische Studenten nicht genug geschützt hätten. Hier gibt es aber ähnliche Tendenzen …
Ich sehe hier zwei Aspekte. Der erste ist das Versäumnis der progressiven Linken. Wir sehen, dass in den letzten 20 Jahren die Sensibilität gegenüber Minderheiten gewachsen ist. Diese wurde aus der progressiven Linken heraus als Forderung in die breite Gesellschaft getragen. Gerade in dieser Entwicklung gibt es nur eine Minderheit, die irgendwie auf der Strecke geblieben ist: das sind die Juden. Das ist wirklich interessant zu sehen. Der britische Komiker David Baddiel macht das in seinem Buch "Juden zählen nicht" deutlich: dass beispielsweise Konzepte wie kulturelle Aneignung oder Mikroaggression auf einmal keine Rolle mehr spielen, wenn Juden die Betroffenen sind. Juden werden von der progressiven Linken nicht als eine Minderheit wahrgenommen, die geschützt werden soll wie andere Minderheiten. Und genau diese Versäumnisse haben Konservative und Rechte entdeckt und gesagt: Gerade an diesem Punkt können wir die Linke mit ihren eigenen Waffen angreifen.
Was bedeutet das?
Es heißt, dass paradoxerweise der Schutz der jüdischen Minderheit statt ein genuin linkes progressives Anliegen zu sein, von Konservativen bis Rechtspopulisten vereinnahmt wurde. Und das ist die Tragik. Wenn man so will, sind die Juden hier gar nicht das Thema, sondern das ist dann dieser Kulturkampf. Und natürlich ist es ein riesengroßer Skandal, dass Trump aktuell mit dem Verweis auf den vermeintlichen Kampf gegen Antisemitismus die Wissenschaft und Kunstfreiheit einschränken will und Menschen aus den USA ausweist. Das ist alles andere als eine Hilfe im Kampf gegen den Antisemitismus.
Nach ziemlich apokalyptischer Krisenstimmung in Kassel scheinen nun alle Beteiligten große Hoffnungen in die neue künstlerische Leiterin Naomi Beckwith zu setzen. In einem Interview hat der hessische Kulturminister Timon Gremmels gerade gesagt, dass die Lust auf die Documenta 16 steigt. Bei Ihnen auch?
Ja, unbedingt, ich will auf jeden Fall wieder nach Kassel kommen.