Malerin Joan Semmel

"Sich Feministin zu nennen, war ein radikaler Akt"

Die Malerin Joan Semmel schockte die Kunstwelt einst mit ihren nackten Selbstporträts, mit 91 Jahren will sie den alternden weiblichen Körper vor dem Verschwinden bewahren. Ein virtueller Atelierbesuch in New York

Der New Yorker Stadtteil SoHo war mal ein heruntergekommenes Künstlerparadies, jetzt dominieren die schicken Shopping Malls. Aber es gibt auch Orte, die wie Zeitkapseln ein vergangenes New York bewahrt haben. Das Studio der Malerin Joan Semmel zum Beispiel, die seit den 1970er-Jahren in den Räumen lebt und arbeitet. "Ich fühle mich einfach wohl hier", sagt die heute 91-Jährige. "Ich bin in der Bronx geboren und habe immer davon geträumt, in Manhattan zu leben. Es gibt hier immer noch eine tolle Community. Es ist der interessanteste Ort, den ich mir vorstellen kann." 

Semmel hat sich als Malerin zuerst dem Abstrakten Expressionismus verschrieben, sich dann aber immer wieder der Figuration zugewandt. Heute gilt sie als feministische Pionierin der Nachkriegsmoderne. Immer wieder malte sie ihren nackten Körper aus ihrer eigenen Perspektive von oben und stellte Fragen zu Weiblichkeit, Erotik und einem selbstbestimmten Blick. Diese Serie aus Selbstbetrachtungen führt sie immer noch fort und zeigt so auch den alternden weiblichen Körper, der in unserer auf Jugend versessenen Bildwelt oft unsichtbar bleibt. Am 25. April eröffnet Joan Semmel eine Ausstellung mit Werken aus fünf Jahrzehnten bei der Brüsseler Galerie Xavier Hufkens. Wir haben sie vorher via Zoom besucht.
 

Joan Semmel, in dieser Woche eröffnen Sie Ihre erste Ausstellung bei der Galerie Xavier Hufkens in Brüssel. Wie fantastisch, wenn man mit 91 Jahren Dinge zum ersten Mal machen kann! 

Ja, ich freue mich sehr auf die Reise, ich war noch nie in Brüssel. Es ist immer wichtig, neue Erfahrungen zu machen, egal, wie alt man ist. Es vergrößert das eigene Leben und verändert den Blick. Ich liebe New York, aber ich habe auch in Spanien gelebt und bin viel gereist. Das war wichtig und hat auch meine Perspektive auf mein eigenes Land verändert. 

Passiert es Ihnen auch noch im Studio, dass Ihnen etwas ganz neu vorkommt?

Ja, ständig. Das ist das Interessante daran, eine Künstlerin zu sein. Man kann so lange leben wie ich es tue, und trotzdem ist es jedes Mal neu, wenn man ins Studio kommt. Kunst zu machen ist eine Erfahrung, bei der jedes Mal etwas Magisches passiert, wenn man es zulässt. So bleibt auch die Neugier auf die Arbeit erhalten. 

Sie haben mal gesagt, dass Sie als junge Frau bewusst entschieden haben, Künstlerin zu werden. Woher haben Sie die Sicherheit genommen, dass Sie das können? Es gab damals lange nicht so viele weibliche Vorbilder wie heute.

Ich glaube, das kam in verschiedenen Stufen. Ich habe schon als Kind ein Verhältnis zur Kunst gehabt, aber mit 24 Jahren war ich eine Weile im Krankenhaus und konnte wenig machen. Damals habe ich entschieden, dass ich ein Leben als Künstlerin führen wollte, dass das mein Leben sein würde. Mein Platz war nicht nur zu Hause in der Familie, das habe ich deutlich gespürt. Es braucht die Hingabe und den Drang, eine Künstlerin zu sein, und die hatte ich. Meine Arbeit macht mich glücklich, und das bringt mich dazu, immer weiter zu machen. Die Kunst verbindet einen außerdem mit Menschen, die diesen Drang genauso spüren, das ist sehr wertvoll.

Die Ausstellung in Brüssel soll eine Art Retrospektive sein. Mögen Sie es, zurückzuschauen?

Eigentlich ist das gar nicht mein Interesse. Ich habe immer in Serien gearbeitet und bin von einer zur nächsten gegangen, ohne zurückzuschauen. Aber vor zwei Jahren gab es eine Retrospektive in Philadelphia, in der Beispiele für alle meine Schaffensphasen zu sehen waren. Als ich die alle nebeneinander gesehen habe, war ich ziemlich beeindruckt von mir selbst (lacht). Es war toll zu sehen, dass diese Arbeit nicht nur für mich eine Bedeutung hat, sondern auch für andere Menschen. 

Gerade die Bilder Ihres eigenen nackten Körpers sehen sehr zeitgenössisch aus. Die Idee, dass der weibliche Körper ein kulturelles Schlachtfeld ist, hat sich überhaupt nicht überholt. Ist das für Sie befriedigend oder eher frustrierend, weil man immer noch über die gleichen Dinge spricht?

Man muss sich immer wieder erinnern, dass sich sehr viel verändert hat. Die Welt war eine völlig andere, als ich jung war. Deshalb ist es für mich wirklich besonders, dass sich junge Leute auch heute von meiner Arbeit angesprochen fühlen. Manchmal überrascht es mich fast, dass wir immer noch darüber sprechen, wie wir Frauenkörper ansehen. Aber es ist wichtig. Vielleicht gehen wir immer zwei Schritte vorwärts und einen zurück.

Ihre Künstlerinnenkollegin Carolee Schneemann hat kurz vor ihrem Tod gesagt, dass sie es gar nicht glauben konnte, dass sie nach der ersten Wahl von Donald Trump wieder ihren "Pussyhat" aus dem Schrank holen musste. Sie dachte, dass diese Art von Männern tot sei. Und nun kämpfen Feministinnen in den USA wieder um das Recht auf Abtreibung ... 

Wir müssen immer noch präsent sein und denselben Kampf kämpfen, Carolee war sich dessen sehr bewusst. Diese Leute, die Frauen beherrschen wollen, waren immer da, auch als wir dachten, dass wir das hinter uns gelassen hätten. Als Trump an der Macht war, bekamen diese rückwärtsgewandten Kräfte die Erlaubnis, sich zu zeigen. Wir sehen also, wo wir weitermachen müssen. 

Als Sie Ihre Nacktbilder in den 1970er-Jahren erstmals gezeigt haben, trafen diese auf viel Abwehr ... 

Sie waren ein Schock für viele Betrachter!

... das hat sich sicher verändert.

Ich glaube nicht, dass sie noch schocken. Es gibt manchmal eine gewisse Ablehnung, auch von Frauen, aber die Akzeptanz überwiegt. Sich damals eine Feministin zu nennen, war ein radikaler Akt. Das ist es nicht mehr. Heute ist es eine Art Ehre, so bezeichnet zu werden und für feministische Werte einzustehen. Als ich angefangen habe, war es eher eine Abwertung. Ich habe in meinem Werk nie den Schock angestrebt. Ich wollte aber, dass meine Werke Biss haben, so würde ich es ausdrücken. Sie sollen nicht nur schön sein, sondern auch etwas haben, das ein bisschen aufwühlt, oder stört.

Vielleicht ist es heutzutage immer noch auf gewisse Weise schockierend, einen alternden weiblichen Körper zu sehen. Durch die sozialen Medien sehen wir vor allem perfekt gefilterte Fotos, und weibliche Stars bleiben - mit wenigen Ausnahmen - nur dann relevant, wenn Sie scheinbar das Altern aufgehalten haben

Unsere visuelle Kultur benutzt den weiblichen Körper immer noch vor allem, um zu verführen und zu verkaufen. Der alte Körper passt nicht zu diesen Ansprüchen, deshalb bleibt er unsichtbar. Es gibt Künstlerinnen wie Käthe Kollwitz, die den alten Körper benutzt haben, um etwas über Ausbeutung auszusagen. Aber ich glaube nicht, dass er schon ausreichend als Mittel des Empowerments gesehen wurde - so wie es bei jungen, klassisch schönen Körpern der Fall ist. Und auch bei Männerkörpern übrigens, da wird der ältere Körper als machtvoll gesehen. Frauen verschwinden jedoch mit dem Alter, sie werden nicht gewürdigt. Für mich hat sich das Thema aber auch entwickelt, weil ich gesehen habe, wie ich selbst älter werde und mein Körper nun mal Gegenstand meiner Arbeit ist. Wir versuchen alle, jung zu bleiben, und ich wollte ein Beispiel dafür geben, dass Altern nicht nur negativ ist. Es ist ok!

Hilft Ihnen dabei Ihr Hintergrund in abstrakter Malerei? Nach dem Motto: Ein Körper ist auch nur eine Ansammlung von Formen und Farben?

Ich sehe jeden Körper, egal ob jung oder alt, erst einmal als Form, und ich habe die Macht, ihn als Bild zu gestalten. In der Renaissance haben alle Künstler versucht, die Betrachter in den Bildraum zu ziehen. Für mich als Malerin war die Leinwand jedoch immer etwas Flaches und es ist meine Aufgabe, diese Fläche dynamisch und interessant zu machen. Dafür ist dann die Figur da, die sich in dieser Fläche bewegt.  

Hat sich auch der physische Akt des Malens mit dem Alter verändert?

Nicht der Akt an sich. Ich kann nicht mehr so lange am Stück malen, aber sonst fühlt es sich vertraut an. Mir war es eher wichtig, niemals in einem Stil stecken zu bleiben. Ich wollte immer beides: die Möglichkeiten von Formen auf der Leinwand ausloten, aber trotzdem die Verbindung zur Welt haben. Deswegen bin ich immer wieder von der Figuration zur Abstraktion und zurück gekommen und es fühlt sich immer anders an. 

Künstlerinnen Ihrer Generation, zum Beispiel Judy Chicago, bekommen gerade viel Anerkennung. Auch Sie hatten eine große Retrospektive. Freuen Sie sich darüber oder fragen Sie sich eher: Warum erst jetzt?

Ja, das denke ich manchmal: Was hat so lange gedauert? Ich bin glücklich über die Aufmerksamkeit, die alle Werke umfasst und nicht nur auf eine Art Trend abzielt. Auch etwas amüsiert. Aber ich denke auch, dass diese ganzen Bilder schon längst da draußen hätten sein können. 

Was denken Sie: Warum hat es so lange gedauert?

Ich glaube, dass Künstlerinnen und Künstler manchmal etwas spüren, lange bevor es für die breitere Öffentlichkeit deutlich wird. Aber ich kann die Frage nicht wirklich beantworten. Deshalb stelle ich sie ja. 

Heute abeiten viele, gerade weibliche und queere Personen in der Kunst mit Bildern ihres eigenen Körpers. Auch Brüste und Vulven sind überall. Wie sehen Sie das?

Es ist auf jeden Fall interessant, aber auch verwirrend. Mein Impuls, mit meinem Körper zu arbeiten, kam auch daher, dass ich aus Spanien in die USA zurückkam, mitten in das, was man "sexuelle Revolution" nannte. Was ich aber sah, waren nackte Frauen am Kiosk und in der Werbung. Das war keine Befreiung, das war Kommerzialisierung. Kunst war für mich ein Mittel, mich außerhalb dieser Zusammenhänge mit dem Körper zu beschäftigen. Und so ist es vielleicht immer noch. Gerade, wenn man Brüste und Pos und Genitalien darstellt, kann das eine Art Gegenbild sein, aber man bewegt sich trotzdem innerhalb der bekannten Tropen der Verführung. Das ist der schmale Grat, auf dem man balanciert. Aber ich glaube daran, dass Frauen die Deutungshohheit über sich beanspruchen müssen, das ist der einzige Weg zur Veränderung. Ich wollte in meiner Arbeit nie didaktisch oder pedantisch sein. Deshalb bin ich gegen jede Form der Selbstzensur. Man soll zeigen, was man selbst für wichtig hält. 

Sie haben auch viel unterrichtet. Was ist das Wichtigste, das sie jungen Künstlerinnen und Künstlern mitgegeben haben?

Das wichtigste ist, man selbst zu sein und ehrlich zu sich selbst zu sein. Wenn man sich offen damit auseinandersetzt, wer und was man ist, wird die Arbeit stark sein. Wenn man sich nur von Trends beeinflussen lässt, ist man nur ein follower

Das ist aber harte Arbeit. 

Ja, und jedes Mal, wenn man ins Studio geht, arbeitet man daran. Man findet und definiert sich selbst. Das ist aber kein narzisstischer Prozess, man muss mit der Welt verbunden bleiben. Ich habe immer aus mir gearbeitet, war aber Teil einer politischen Bewegung.

... die man heute "Second Wave Feminism" nennt. Viele Ihrer Mitstreiterinnen sind schon gestorben oder jetzt in ihren 80ern und 90ern. Was, glauben Sie, bleibt von dieser Künstlerinnen-Generation?

Die Bedeutung wird sich immer wieder verändern und wachsen. Kommende Generationen werden verschieden darauf schauen, sonst würde die Bedeutung erstarren. Vielleicht brauchen wir irgendwann keinen Feminismus mehr! Aber wir und unsere Zeit haben ihn gebraucht. Das ist für mich zentral. Bleiben wird die Notwendigkeit, dass es uns gegeben hat.