Kolbe-Museum-Direktorin Kathleen Reinhardt

"Man kann nicht die Büchse der Pandora öffnen und dann die Geister wieder reinstecken"

Seit einem Jahr ist Kathleen Reinhardt Direktorin des Berliner Georg Kolbe Museums. Hier spricht sie über neue Forschung zum Künstler im Nationalsozialismus, den Tod der Bildhauerin Lin May Saeed und das Museum als Erkenntnismaschine


Kathleen Reinhardt, Ihr Programm am Georg-Kolbe-Museum in Berlin hat sehr tragisch begonnen. Wenige Tage vor der Eröffnung der Ausstellung "Im Paradies fällt der Schnee langsam" von Lin May Saeed ist die Künstlerin gestorben. Mit welchem Gefühl gehen Sie gerade durch die Schau? 

Das ist keine leichte Frage. Als wir angefangen haben, an der Ausstellung zu arbeiten, schwebte das alles ja schon im Raum, und für mich war es ein großer Lernprozess, mit einer Künstlerin zu arbeiten, die schwer krank ist. Wir sind gewohnt, dass alles schnell geht, 1000 Emails fliegen hin und her, Deadlines überschlagen sich. Jetzt hatten wir – trotz des Zeitdrucks – eine ganz andere Geschwindigkeit mit anderen Prioritäten, und so bin ich sehr dankbar dafür, dass Lin mir einen Einblick eröffnet hat, wie man auch anders arbeiten kann. Für mich ist es nicht nur mit Schmerz verbunden, durch die Schau zu gehen. Es ist eine sehr schöne Ausstellung geworden, in der man von einer außergewöhnlichen Künstlerin Abschied nehmen kann, die viel zu früh gehen musste. Es kommen viele Freunde und Weggefährten. 

Krankheiten und care sind in der Kunst als Themen gerade sehr präsent, werden aber selten in den konkreten Arbeitsabläufen einer Institution mitgedacht … 

Ja, hier kamen die Umstände der Entstehung der Ausstellung mit der Arbeitsweise und den berührenden Arbeiten von Lin zusammen, bei denen es um eine Achtsamkeit gegenüber der Welt und ihren Lebewesen geht. Es war wichtig für mich, eine eher leise Künstlerin sichtbar zu machen, die in Deutschland noch nicht genügend Aufmerksamkeit für ihr Werk erfahren hatte, weil sie ein bisschen "vorneweg" war. Sie hat sich seit 20 Jahren mit Tier- und Umweltthemen auseinandergesetzt und diese Präsenz längst verdient. Das Georg Kolbe Museum war eines ihrer Lieblingsmuseen, und die zurückhaltende Eleganz und Naturverbundenheit des Ortes sind perfekt für ihr Werk. Das tröstet mich: Sie ist mit dem Tusch einer Museumsausstellung gegangen. Daran halte ich mich auch fest.   

Damit schließt sich gewissermaßen ein Kreis. Schließlich hat Georg Kolbe sein Atelier in den 1920er-Jahren als "Trauerbau" und Rückzugsort nach dem Tod seiner Frau Benjamine errichten lassen. 

Ja, und das zeigt auch vieles, was mir beim Ankommen hier wichtig wurde. Auf der einen Seite dieser transhistorische Moment zwischen der zeitgenössischen Künstlerin Lin May Saeed und der modernen Tierbildhauerin Renée Sintenis, der hier stattfindet. Über Themen, die in der Institution angelegt sind, wird ein Dialog zwischen stark auseinanderklaffenden Zeiten etabliert. Zum anderen geht es darum, den Ort als Ruhepol und Reflexionsraum wahrzunehmen – in der Geschichte, in der Natur und in der eigenen Verfasstheit im Moment. 

Sie kommen von den Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden, also einer sehr großen Institution. Was zieht einen an ein kleines Museum am Grunewald, das ein bisschen "ab vom Schuss" liegt und auch nicht das klassische Berlin-Mitte-Kunstpublikum anlockt?

Es ist auf jeden Fall ein komplett anderes Arbeiten mit vielen neuen Herausforderungen. Hier bin ich künstlerische Leitung, kaufmännische Geschäftsführerin und Kuratorin in einem. Es ist natürlich eine Umstellung, als Wissenschaftlerin Inhalte nicht ganz so tief bearbeiten zu können, wie vielleicht erhofft. In Dresden gab es Möglichkeiten für Langzeitprojekte, aber es war für mich auch schwierig, in diesen großen Strukturen etwas anzusiedeln, Finanzierungen dafür zu finden und das auch gegenüber anderen Vorhaben durchzuboxen. In einem Museumsverband sind alle Museen wichtig und nicht nur du mit deinem "kleinen Projekt". Ich komme aus langjährigen Forschungsphasen, die zu sehr großen Ausstellungen geführt haben - wie beispielsweise die nun von meinem ehemaligen Kollegen Mathias Wagner fantastisch am Albertinum zu Ende gebrachten "Revolutionary Romances". Darin geht es um transkulturelle Einflüsse und Kunst als Kulturdiplomatie im internationalistischen Netzwerk sozialistischer Staaten und Unabhängigkeitsbewegungen außerhalb des Ostblocks. Für mich ist es immer spannend, nach Nebenwegen des Kanonischen in Institutionen zu suchen, die als sehr kanonisch wahrgenommen werden, und dies für ein weites Publikum neu sichtbar zu machen. Und so hoffe ich auf eine spannende Zeit in Kolbes "Sensburg". 

Es fällt auf, dass inzwischen viele der kleineren Berliner Museen, die der Kunst der Moderne gewidmet sind, von jungen Direktorinnen geleitet werden: Sie am Kolbe-Museum, Lucy Wasensteiner in der Max-Liebermann-Villa und Lisa Marei Schmidt am Brücke-Museum. Auch Anna Gritz am Haus am Waldsee steht für einen Generationswechsel. Gibt es eigentlich einen Austausch zwischen Ihnen? 

Wir sind natürlich in engem Austausch, auch Dorothea Schöne mit dem Kunsthaus Dahlem gehört dazu. Wir haben einmal in einem schönen Gespräch überlegt, dass es eigentlich nicht darum geht, dass wir "nach dem Mitte-Publikum lechzen", wie es manchmal auf uns projiziert wird. Unser Publikum ist - trotz vieler Überschneidungen - ein anderes, und wir sind sowas wie Destinations-Museen. Man fährt bewusst hierher, sieht sich die Ausstellung konzentriert an, verweilt, trinkt Kaffee. Die Künstlerin Ayumi Paul hat das Kolbe-Museum einen intentional space genannt, was mir sehr gefällt. Das sind auch alles Museen mit Gärten, die in ganz bestimmten Mikrokosmen angesiedelt sind. Diese Orte bieten eine besondere Möglichkeit, sich auf Themen zu fokussieren, weil die Besucherinnen eine andere Aufmerksamkeit mitbringen. Und auch ein Interesse an Situiertheit. Warum und wie kommen diese historischen Orte in diese Stadtlandschaft, was waren sie, was können sie heute sein? 

Ihr Museum ist stark auf klassisches bürgerliches Engagement angewiesen, zum Beispiel durch den Freundeskreis. Gibt es dafür eigentlich Nachwuchs, oder ist das ein vom Aussterben bedrohtes Modell? Ist diese Art von kulturellem Engagement vielleicht einfach nicht mehr Teil von Lebenswelten jüngerer Menschen?

Es ist auf keinen Fall ein Modell, das aussterben darf, weil wir als Häuser extrem auf die Unterstützung von diesen Freundeskreisen angewiesen sind. Die öffentlichen Förderstrukturen sind, gelinde gesagt, sehr herausfordernd und oft nur auf Kurzfristigkeit oder einer maximalen Planbarkeit von eineinhalb Jahren ausgelegt. Dabei wäre es viel nachhaltiger, in längeren Zeiträumen zu denken, um beispielsweise Kooperationsausstellungen mit einigen Jahren Vorlauf auch als sichere planbare Modelle zu etablieren. Deshalb brauchen wir dieses private Engagement, das mehr Freiraum zulässt.

Sie leiten nun ein Haus, das einer einzelnen Person gewidmet ist. Und keiner unkomplizierten: Georg Kolbe war kein NSDAP-Mitglied und hat die Nazis nicht offen unterstützt, er hat ab 1933 aber weiter gearbeitet und war in der Großen Deutschen Kunstausstellung vertreten. Außerdem stand er auf Hitlers Liste der "Gottbegnadeten". Nun bringen Sie eine neue Publikation zu Kolbe im Nationalsozialismus heraus. Welche Erkenntnisse bringt die?

Zentral dabei war die Rückkehr des Nachlasses, den wir bei uns als Kanada-Nachlass bezeichnen. Das Haus und die Stiftung hatten einen bestimmten Teil, dann wurde in den 60er-Jahren ein großer Teil des Nachlasses von der damaligen Leiterin und Enkelin Kolbes nach Kanada gebracht. Meine Vorgängerin Julia Wallner hat vor dem Tod der Enkelin Kontakt aufgenommen, weil es im Haus immer diese Lücken gab und klar war, dass etwas fehlte. Dank Julias Beharrlichkeit kamen diese Unterlagen wieder nach Berlin, und viele davon haben mit den Jahren 1933 bis 45 zu tun. Deshalb wurden von der Nachlass-Projektleiterin Elisa Tamaschke Wissenschaftlerinnen eingeladen, um sich mit diesem neuen Quellenmaterial aktiv auseinanderzusetzen. 

Und?

Die Konferenz dazu im letzten Sommer hat wirklich die Grauzonen herausgearbeitet, in denen Kolbes Kunstschaffen stattfand. Zum einen wurden seine Werke im öffentlichen Raum abgebaut und eingeschmolzen, zum anderen löste sich die deutsch-jüdische Kunstwelt um ihn herum vor seinen Augen auf, und er wurde auf der Großen Deutschen Kunstausstellung gezeigt. Diese Erkenntnisse haben großen Einfluss auf die weitere Ausrichtung der Institution und werden diese verändern. 

Inwiefern?

Wie gesagt, war Kolbe nie Mitglied der NSDAP, und er hat sich auch nicht so angedient wie beispielsweise ein Arno Breker mit seinem ästhetischen Gigantismus. Bei Kolbe ist interessant, dass hier eine Künstlerpersönlichkeit agiert hat, die sich gefragt hat: Wie kann ich auf diesem Markt jetzt gerade verkaufen? Wir nennen es Opportunismus, aber er war Markt-Opportunist. Das ist bei figurativer Skulptur und einem Porträtisten etwas Spezielles: durch die Nähe zur Macht und Auftragsarbeiten im öffentlichen Raum und in Privathäusern. Kolbe ist ein Künstler, der in vier verschiedenen politischen Systemen erfolgreich war, also wirklich vom Kaiserreich bis in die unmittelbare Nachkriegszeit. 1945 standen die Alliierten im Atelier und haben Skulpturen aus den 20er-Jahren als Nachgüsse bestellt. Kolbe hat in der Skulptur des frühen 20. Jahrhunderts einzigartiges geschaffen und steht für eine konservative Moderne, die auch gerade in Kombination mit der architektonischen Moderne des Bauhaus ihre volle Wirkung entfaltet. Kurz darauf bediente er einen Markt um die dunkelsten Mächte des 20. Jahrhunderts. Und das ist natürlich etwas, mit dem wir arbeiten müssen, was wir verständlich vermitteln möchten. Kolbe ist kein Künstler, den man wie eine Käthe Kollwitz umarmen kann. Es ist unbequem. Die Aufgabe der nächsten Jahre wird sein, diese unbequemen Wahrheiten in die Institutionen einzuarbeiten.

Gibt es da eine Grenze, wie kritisch man mit seinem Namensgeber sein darf? 

Elisa Tamaschke hat mit einer Forschungsgruppe gearbeitet, die komplett aus unabhängigen, externen Kunsthistorikerinnen und -historikern bestand, deren Aufgabe es ja auch war einen neuen Blick zu erarbeiten und Prozesse anzustoßen. Der Umgang mit den Ergebnissen ist nun unsere Aufgabe. Das machen wir dialogisch, offen und konfrontativ. Man kann nicht die Büchse der Pandora öffnen und dann die Geister wieder reinstecken. Es ist 2023, und ich möchte nichts beschönigen, sondern kritische Denkprozesse für unser herausforderndes Heute anstoßen. 

Zum Beispiel?

Was wir durch Kolbe sehen können, und das hat auch einen Anschluss an die Gegenwart: Wie Künstlerinnen und Künstler auf verschiedenen Märkten agiert haben. Wir müssen Kunst auch aus ihrer Zeit heraus verstehen. Also wirklich die Umstände anschauen, in denen Kunstschaffen stattgefunden hat und stattfinden musste. Mit verschiedenen Motivationen. Einmal natürlich Künstler und Kulturschaffende, die gehen mussten, weil ihr Leib und Leben bedroht war, oder die durch ihren Glauben an den Humanismus das Fenster zur Flucht verpassten und ermordet wurden. Dann die, die gehen wollten und noch konnten, weil sie sich mit der Politik ideologisch nicht identifizieren konnten, oder weil es ihnen wichtig war, politisch zu agieren. Kolbe war kein politischer Künstler in diesem Sinne. Er war der Porträtist der Weimarer Republik. Aber nur, weil in der Weimarer Republik der Markt war. Wir haben oft den Anspruch an Kunst, dass sie moralisch alles lösen muss, dass sie immanent gut ist oder Gutes will. Aber ich glaube, ein differenziertes Herangehen ist viel näher an einer Realität von heute, als wir uns vielleicht eingestehen wollen.

Im Garten sitzt man gerade beim Kaffee und schaut auch auf Kolbe-Skulpturen aus den 30er-Jahren. Geht das?

Wir sehen gerade eine neue Sensibilisierung und Vehemenz bei diesen Themen, zum Beispiel durch Wolfgang Brauneis‘ Forschung zu Werken aus der NS-Zeit im öffentlichen Raum. Das ist sehr wichtig. Das Museum muss als Erkenntnismaschine ein Verhandlungs- und Vermittlungsraum dessen sein, aber auch Raum für ästhetisches Erleben. Wenn wir heute Kolbe-Werke aus den späten 30er-Jahren sehen, haben wir natürlich unser visuelles Gedächtnis. Das sagt uns: Oh, das sind schon sehr, sehr gesunde Körper, die auch von den Nazis propagiert wurden. Aber nochmal: Wir müssen die Kunst auch aus ihrer Zeit heraus verstehen. 

Und was sieht man dann?

Kolbe hat diese Formensprache für die deutsche Skulptur entwickelt, und zwar seit den Nuller- und 10er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Im Garten haben wir diese Gegenüberstellung der Schaffensphasen, von ganz schlanken Figuren bis zu den Kräftigen, die auch durch Nietzsche inspiriert waren. Kolbe hat sich immer gegen Gigantismus gewehrt, hat aber sehr genau beobachtet, was sich gut verkauft.  Deshalb ist der Garten ja so besonders, weil man das hier in seiner ganzen – zum Teil vielleicht auch dunklen – Faszination greifen kann. Zum 75-jährigen Bestehen des Museums in zwei Jahren wird außerdem der "Tänzerinnen-Brunnen" im Garten in den Fokus gerückt, welcher noch weitere problematische Themen ansprechen wird. Beispielsweise kolonial sozialisierte Blicke in der Kunst der Moderne.

Im nächsten Frühjahr zeigen Sie eine Ausstellung der israelischen Choreografin Noa Eshkol. Vor dem Hintergrund des Nahost-Krieges gibt es gerade einen enormen Druck auf Institutionen, sich zu positionieren. Gleichzeitig wurden Ausstellungen und Konferenzen wegen als antisemitisch bewerteten Aussagen von Künstlerinnen oder Kuratoren abgesagt. Dagegen gab es wiederum Boykotte und Proteste. Die nächste Documenta liegt wegen des Rücktritts der Findungskommission sozusagen auf Eis. Die Stimmung wirkt extrem feindlich und polarisiert. Wie empfinden Sie die Lage?

Wir sehen gerade viele Konflikte wie unter einer Lupe. Es ist sehr schwierig für mich zu sehen, was in den letzten Wochen innerhalb der Kunstszene passiert, ob das jetzt in Deutschland ist oder international. Ich habe das Gefühl, dass sich nach innen zerfleischt wird, dass Gräben ausgehoben werden, die vielleicht auch irreparabel sein werden. Das schmerzt mich sehr, weil wir nicht aus dem Blick verlieren dürfen, welche Herausforderungen Kunst- und Kulturorten und ihren Macher:innen in den nächsten Jahren und vielleicht Jahrzehnten bevorstehen. Vor allem auch durch einen extremen Rechtsruck von Demokratien und einem Erstarken von autokratischen Systemen. Kultur sollte ein Freiheitsort des Miteinanders und des kritischen Fragens sein, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Kunstorte sind per se politische Orte, weil Kunstschaffen immer unter verschiedenen politischen Bedingungen stattfindet und stattfand. Das haben wir hier im Georg Kolbe Museum unter einem Brennglas.

Spricht das vielleicht gegen eine klare politische Positionierung von Museen, weil das immer eine Vereinfachung bedeutet?

Wir leben in einer Realität von vielen schmerzlichen Wahrheiten und Dilemmata, die nebeneinander existieren und auch kritisch betrachtet werden müssen. Es sollte kein "aber" sein, denn es ist ein "und, und, und, und, und". Vielleicht kann ein Museum ein Ort sein, der das klar macht, das wollen wir ja alle immer hoffen und glauben. 

Und, glauben Sie es?

Ich glaube, eine Ausstellung im Museum ist ein Raum, in dem man dem sich begegnen kann. Aber es ist eben auch ein Raum, der nicht frei ist von dem, was man mit sich hineinbringt. Gerade bei der Ausstellung von Noa Eshkol wird man sehen, dass ein Kunstschaffen an geopolitische Entwicklungen und zeitgeschichtliche Gegebenheiten gebunden ist, sich an ihnen reibt, jedoch auch nach einem utopischen übergeordneten Raum strebt, um sich dem entgegenzustellen. Das kann mit einem geschichtlichen Abstand verstanden werden, und das kann auch beim Blick auf unsere heutige Gleichzeitigkeit von Allem helfen. Das ist vielleicht nur ein Teil einer möglichen Antwort. Aber das wird die Herausforderung bei dieser Ausstellung sein.