Interview zum Fall Jon Rafman

"Das schnelle Vorverurteilen finde ich problematisch"

Der Kunstverein Hannover hat eine Ausstellung des Künstlers Jon Rafman verschoben, nachdem ihm mehrere Frauen übergriffiges Verhalten vorgeworfen haben. Ein Gespräch mit Direktorin Kathleen Rahn

Für manche ist der kanadische Videokünstler Jon Rafman ein Opfer der sogenannten "Cancel Culture", für andere ein weiteres Beispiel für dem systemischen Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe im Kunstbetrieb, überwiegend durch Männer. Auf dem Instagram-Account "Surviving The Artworld" gibt es seit Mitte Juli sechs öffentliche Beiträge, in denen offenbar fünf Frauen (zwei davon anonym) Vorwürfe gegen den heute 38-Jährigen erheben. Die Erfahrungsberichte wurden zu einer Zeit veröffentlicht, in der eine ganze Reihe von Protagonisten der kanadischen Kulturbranche mit Vorwürfen sexueller Übergriffe konfrontert werden. Die Autorinnen auf "Surviving The Art World" berichten von ihren Affären mit dem Künstler, die zum Teil einige Jahr zurückliegen. Sie werfen Rafman vor, manipulativ gewesen zu sein, aggressiven und ungeschützen Sex mit ihnen gehabt zu haben und seine Macht als bekannter Künstler gegenüber den jüngeren und unerfahreneren Frauen missbraucht zu haben. Juristische Schritte gegen Rafman gibt es offenbar nicht.

Auf dem Instagram-Account ist dagegen nun zu lesen, dass Jon Rafman den Verantwortlichen eine Unterlassungsaufforderung geschickt hat. "Wir sind entmutigt, dass das die Reaktion darauf ist, einen Raum zu eröffnen, in dem Erfahrungen von Missbrauch öffentlich geteilt werden können", heißt es im neuesten Post vom 26. Juli. Jon Rafman hatte vorher in eine Statement erklärt, er sei "bestürzt" über die Vorwürfe, habe aber nichts falsch gemacht. "Obwohl es für die Frauen, die sich meldeten, bedauerliche Erfahrungen waren, möchte ich sehr deutlich machen, dass es sich um einvernehmliche Aktionen zwischen Erwachsenen handelte."   

Nach Bekanntwerden der Vorwürfe hatte sich Rafmans kanadische Galerie Bradley Ertaskiran von dem Künstler getrennt, das Hirshhorn Museum in Washington legte eine geplante Schau auf Eis. Auch im Kunstverein Hannover sollte im September eine Einzelausstellung von Jon Rafman eröffnen, die wegen der Corona-Pandemie bereits verlegt worden war. Nun ist sie erneut verschoben worden. Wir haben mit der Direktorin Kathleen Rahn über die Beweggründe und die Debatte um Jon Rafman gesprochen.   


Frau Rahn, wann haben Sie entschieden, die Ausstellung von Jon Rafman zu verschieben?

Als der erste Vorwurf von der Künstlerin Anne-Marie Trépanier auf ihrer eigenen Instagram-Seite veröffentlicht wurde und noch bevor der Instagram-Account "Surviving the Art World" initiiert wurde, hat Jon Rafman mich angerufen und darüber informiert, dass es Anschuldigungen gegen ihn gibt. Das war Mitte Juli. Der Künstler hat mich dann gebeten, die Ausstellung bei uns zu verschieben.

Bevor Medien das Thema aufgegriffen haben?

Ja. Der Artikel in der "Montreal Gazette" ist am 22. Juli erschienen. Die Ausstellungsverschiebung habe ich zunächst mit dem Vorstand und unseren Förderern besprochen und außerdem versucht, so viele Informationen wie möglich zu sammeln.

Hätten Sie selbst auch so entschieden?

Diese Frage hat sich so nie gestellt. Ausstellungen entstehen immer im Dialog und engem Austausch mit den ausstellenden Künstlerinnen und Künstlern. Ich halte es nach wie vor für richtig, wie wir gehandelt und einvernehmlich entschieden haben. Es ist für eine Institution wie einen Kunstverein natürlich sehr komplex, eine Ausstellung zu verschieben, noch dazu kurzfristig.

Haben die anderen Ausstellungshäuser, die Jon-Rafman-Ausstellungen abgesagt haben, zum Beispiel das MAC in Montreal und das Hirschhorn Museum in New York, Sie in Ihrem Urteil beeinflusst?

Nein. Zum MAC möchte ich präzisieren, dass keine Einzelausstellung abgesagt wurde, wie man es oft lesen konnte. Innerhalb der Sammlungspräsentation wurden zwei Videoarbeiten gezeigt, die dann nicht mehr zugänglich waren. Aber natürlich spielt das Museum in Jon Rafmans Heimatstadt eine große Rolle in dem Diskurs, der aktuell in Montreal generell geführt wird.

Welche Reaktionen kommen jetzt bei Ihnen direkt an? In der Presse und in den sozialen Medien gab es ja sowohl den Vorwurf, dass Jon Rafman "gecancelt" wird, als auch den, dass eine Verschiebung nicht ausreicht und die Ausstellung aus Solidarität mit den Opfern gleich ganz hätte abgesagt werden müssen …

Wir bekommen Reaktionen in alle Richtungen. Auch hier in Hannover gibt es kaum jemanden, der mich nicht auf das Thema anspricht. Wir hatten alles von "Wie kann man überhaupt noch in Erwägung ziehen, diesen Künstler zu zeigen?" bis zu "Wie kann man diese Ausstellung verschieben, wieso zeigt ihr ihn jetzt nicht?". Für viele ist dieser Fall auch ein Anlass, um in größere Diskurse einzusteigen, zu Cancel Culture, der #Metoo-Bewegung und Machtstrukturen in der Kunst im Allgemeinen.

Wie positionieren Sie sich als Institution in dieser Debatte?

Ich finde, wir haben uns positioniert, indem wir die Vorwürfe ernst nehmen und nun die weitere Entwicklung verfolgen. Wir haben eine Verantwortung gegenüber den Künstlerinnen und Künstlern, die wir zeigen, und wir haben einen Vermittlungsauftrag gegenüber unserem Publikum. Es ist für uns selbstverständlich Debatten zu führen und anzustoßen. Das tun wir bei all unseren Projekten, beispielsweise in Form von Symposien und Vorträgen im Kontext unseres umfangreichen Rahmenprogramms.

Es gibt in dem Fall bisher kein juristisches Verfahren und es geht auch nicht primär um Straftaten. Vielmehr um übergriffiges Verhalten eines erfolgreichen Künstlers gegenüber jüngeren Frauen, die von "emotional"- und "sexual abuse", "predatory behaviour" und "abuse of power" berichten. Was kann da geprüft werden?

Einige der Frauen, die die Vorwürfe erhoben haben, gaben in der Zwischenzeit Interviews und Jon Rafman hat selbst ein Statement veröffentlicht. So einen Fall kann man nicht in ein paar Tagen überblicken. Ich stehe mit Leuten aus Montreal in Verbindung, und auch unser Partner, das Canadian Council, beobachtet die Situation aus einer neutralen Perspektive.

Es gab den Vorwurf, dass Institutionen ihr Urteil nur auf Basis von Social-Media-Narrativen fällen.

Da würde ich absolut widersprechen. Wir haben von Anfang an versucht, uns ein so differenziertes Bild wie möglich zu verschaffen. Das braucht seine Zeit. Wir wollen uns auf keinen Fall einer Debatte verweigern.

Haben Sie versucht, mit einer der Frauen in Kontakt zu treten, die die Vorwürfe gegen Jon Rafman äußern?

Nein, habe ich nicht, weil ich ihre Aussagen von hier aus nicht beurteilen kann.

In der Diskussion werden die Solidarität mit den "Anklägerinnen" und die Unschuldsvermutung gegenüber dem "Angeklagten" Jon Rafman oft gegeneinander ausgespielt. Ist der Fall für Sie eine juristische oder moralische Angelegenheit?

Ich denke, unsere Gesetze sowie die Demokratie sind auf einer ethisch-moralischen Basis gebaut, insofern würde ich diese Kategorien nicht gegeneinander ausspielen. Wenn man einen Sachverhalt juristisch betrachtet, wird er zumindest von Fachleuten abgewogen. Das ist es, was ich auch für die Kunst fordere. Das schnelle Vorverurteilen sehe ich problematisch.

Andererseits haben viele Frauen die Erfahrung gemacht, dass ihnen im juristischen Kontext nicht geglaubt wird und eher die Täter geschützt werden. Die öffentlichen Anklagen auf Social Media kann man auch so deuten, dass andere Formen der Aufarbeitung gescheitert sind … 

Das ist sicherlich bedauerlich, trotzdem gilt auch unabhängig vom rechtlichen Rahmen, dass man fragen muss, welche Anschuldigung berechtigt ist. Wer prüft das und wie? Mein Eindruck ist, dass vieles in den sozialen Medien schnell als Fakt angenommen wird und sich nicht die Zeit genommen wird, einen Sachverhalt von mehreren Seiten anzuschauen. Dass heute die Möglichkeit besteht, sich verstärkt und auf direkterem Wege mitzuteilen, ist eine sehr positive Entwicklung. Jedoch halte ich es für wichtig, den Einzelfall genau anzuschauen.

Können Sie den Vorwurf nachvollziehen, dass es unsolidarisch gegenüber den Frauen sei, weiter mit Jon Rafman zu arbeiten?

Ich fände es eher anmaßend, die Vorwürfe aus meiner Position zu bewerten, aus der ich sie nicht bewerten kann. Deshalb die Zurückhaltung und das Abwarten von unserer Seite. 

Die Debatte dreht sich ja nicht nur um eine Person, sondern um das generelle Problem von Machtmissbrauch und sexuellen Übergriffen im Kunstbetrieb …

Dass es das generell im Kunstbetrieb gab und gibt, ist sicherlich ein Problem. Umso mehr sehe ich es als Aufgabe aller Kolleg*innen im Kunstbetrieb an, aufmerksam zu sein, dies zu erkennen und dementsprechend dagegen vorzugehen.

Ist es dann nicht ein Fortschritt, wenn heute offener darüber gesprochen wird und es andere Kanäle gibt, sich Gehör zu verschaffen?

Ein offener Diskurs über diese Thematik ist sinnvoll und wichtig. Dass die Möglichkeit besteht sich direkt Gehör zu verschaffen mittels Social Media halte ich für eine wichtige Errungenschaft unserer Zeit. Die Debatte sollte jedoch fundiert und vorurteilsfrei geführt werden.

Über den Fall Jon Rafman spricht Monopol-Chefredakteurin Elke Buhr auch im Radio bei Detektor FM mit Moderatorin Anja Bolle