Fotoprojekt zu Berliner Freiflächen

"Die Brachen sind gedankliche Rückzugsorte"

Jaakov Pronin hat für seine Serie "Genius Loci" die letzten Brachflächen innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings fotgrafiert. Auch diese werden bald verschwinden. Ein Gespräch über den Verlust von Freiraum und die leere Stadt seiner Kindheit 


Jaakov Pronin, Sie haben als Teil ihrer Abschlussarbeit - in ihrem Projekt "Genius Loci" um die 40 Brachflächen innerhalb Berlins fotografiert. Wie entstand die Projektidee?

Die Idee kursierte schon länger in meinem Kopf, weil die Brachen für mich einfach zum Stadtbild gehören. Ich bin am Alexanderplatz aufgewachsen und habe in den vergangenen zwei Jahrzehnten beobachtet, wie Freiflächen verschwinden. Das war der dokumentarische Aspekt meiner Arbeit - die letzten Brachen in der Innenstadt festzuhalten.

Was sind Brachen per Definition?

Es sind Freiflächen, die in keiner Weise gesellschaftlich oder wirtschaftlich genutzt werden, sondern einfach vor sich hin vegetieren. Wichtig ist aber, dass sie schon einmal genutzt wurden, eben verlassen sind.

Wie beeinflussen die Brachen das Stadtbild Berlins?

Ich verbinde damit das Berlin meiner Kindheit, der späten 90er- und beginnenden Nuller-Jahre. Berlin war früher gefühlt eine leere Stadt. Das ungepflegte, dreckige Berlin, mit diesem weitläufigen vibe, der zum Beispiel im Film “Der Himmel über Berlin” noch zu sehen ist und der den Charme der Stadt ausmacht. Die Brachen sind gedankliche Rückzugsorte. Man läuft vorbei und hat das Gefühl sich abseits der Stadt in einer Art Zwischenraum zu befinden.

Ging es bei den Aufnahmen nur um eine bloße Dokumentation des Ortes?

Der Grundgedanke war natürlich dokumentarisch, aber es sind keine nüchternen Architekturaufnahmen. Ich habe versucht den ganzen Ort als solchen einzufangen. Die Bäume und Pflanzen nehmen oftmals eine wichtige Rolle als Bewohner:innen der Freiflächen ein. Sie sind stark daran beteiligt, den Genius überhaupt fassbar zu machen.

Mit welchem Verfahren haben Sie die Brachen fotografiert?

Die Aufnahmen sind alle mit einer Großformatkamera im Format 4 x 5“ aufgenommen. Die Großformatkamera verlangt eine hohe Präzision, die für diese Arbeit notwendig war. Sie war hilfreich, um diese Räume genau einfangen zu können. Während meiner Arbeit habe ich bemerkt, dass Farbe in vielen Situationen nicht funktioniert, weil die Flächen auch von Graffiti-Künstler:innen genutzt werden. Um eine gewisse Neutralität zu erzeugen, habe ich mich dazu entschieden in Schwarz-Weiß zu fotografieren.

Der Titel Ihrer Arbeit, "Genius Loci", steht für den Geist eines Ortes. Wie haben Sie, fotografisch versucht diesen genius einzufangen?

Bei manchen Orten hat sich herausgestellt, dass es nicht möglich ist den "ganzen" Ort in nur einem Bild festzuhalten, weshalb ich hier zum Teil multiperspektivisch gearbeitet habe. Das heißt, dass ich einige Orte aus mehreren Perspektiven fotografiert und anschließend zusammengesetzt habe. Hier sind einerseits die Begrenzungen durch Häuser und Zäune wichtig, weil der loci dadurch definiert wird. Für den genius andererseits spielte die Vegetation eine wichtige Rolle, die sich die Orte "zurückholt".

Zu Beginn sagten Sie, die Freiflächen verschwinden. Was passiert mit den Brachen?

Es gibt einen Flächennutzungsplan des Berliner Senats, der im Jahre 2010 erstellt wurde und bis zum Jahre 2030 umgesetzt werden soll. In diesem Plan ist festgeschrieben, dass jede Freifläche der Stadt Berlin genutzt werden soll, um den Wohnungsmarkt zu bedienen und Wohnraum zu schaffen. Das ist tatsächlich eine Entwicklung, die die Stadt schon einmal durchgemacht hat.

Wann?

Um 1900 herum war Berlin relativ dünn besiedelt, mit sehr viel Brachfläche und einer Einwohner:innenzahl von knapp zwei Millionen. Bis zum Jahre 1930 war Berlin die viertgrößte Stadt der Welt mit 4,5 Millionen Einwohner:innen - eine riesige Metropole mit keinem freien Quadratzentimeter. Es wurden Hinterhöfe um Hinterhöfe bebaut, wodurch sich das Berliner Stadtbild auch jetzt noch auszeichnet.

Ist in dem Flächennutzungsplan schon definiert, wer wann was bauen wird?

Nein, es sind eher allgemeine Verteilungen angegeben. Ein gewisser Prozentsatz soll als Gewerbefläche genutzt und der andere Teil zum Wohnungsbau freigegeben werden. Zum Teil waren Flächen schon benannt und konkretisiert. Wobei man auch differenzieren muss, nach den Flächen die der Stadt zur Verfügung stehen, und denen, die in Privatbesitz sind. Diese sind nicht direkt in den Plan eingerechnet, aber aufgelistet.

Wollen Sie mit Ihrer Arbeit Stellung zur Bebauung der Stadt beziehen?

Gerade bei schnell wachsenden Städten wie Berlin ist es nur positiv, dass neuer Wohnraum geschaffen wird. Aber es ist problematisch, für wen diese Wohnungen gebaut werden, zu welchen Konditionen, und wer dadurch verdrängt wird. Mit der Bebauung der Stadt verbinde ich auch das Gefühl der Vereinnahmung durch ausländische Investoren und den Tourismus, dass es enger wird, teurer - dass die Stadt sich eben zu einer modernen Hauptstadt entwickelt.