Ausstellung über Künstlermythen

"Der Mythos kommt erst im Nachhinein, wenn der Erfolg schon da ist"

Künstler laden ihre Biografien und Werke mit Mythen auf. Il-Jin Atem Choi zeigt in der Leipziger Galerie Intershop eine Ausstellung zum Thema. Hier spricht er über Beispiele in der Kunstgeschichte und den Punkt, an dem es gefährlich wird
 

Il-Jin Atem Choi, Sie leiten seit knapp einem Jahr die Produzentengalerie Intershop in Leipzig. Davon gibt es ja nicht mehr so viele in Deutschland. Muss man Künstler sein, um hier die Geschäfte zu führen? Unterscheidet sich die Arbeit von der in einer regulären Galerie?

Man muss nicht unbedingt selbst Künstler sein – es gab in den letzten Jahren diverse Kunstgeschichtler, ganz andere Sparten oder eben Künstlerinnen und Künstler, die hier gearbeitet haben. Es ist übrigens signifikant, dass die Galerie weitaus mehr Künstlerinnen als Künstler umfasst. Das ist mir wichtig, zu sagen – einfach, weil der Kunstmarkt offensichtlich Künstler bevorzugt, sie offenbar noch immer mehr Anklang bei Sammlerinnen und Sammlern finden. Dadurch, dass hier ein Kollektiv entscheidet, wer aufgenommen wird, haben wir inzwischen zwei Drittel Künstlerinnen im Programm.

Welchen Blick können Sie als Künstler einbringen?

2021 ist die Galerie nochmal ganz neu als Unternehmergesellschaft (UG) aufgestellt worden. Es passt natürlich wie die Faust aufs Auge, dass ich selbst Künstler bin – eine Produzierendengalerie ist davon geprägt, dass alle alles selbst machen. Ich denke, die Empathie für die "Wehwehchen", die Künstlerinnen und Künstler haben, ist bei mir natürlich größer. Die Frage ist aber, ob das synergetisch funktioniert: Hat ein Künstler auch das Geschäftliche drauf? Kann er verkaufen, kann er Marketing, die Sammlerinnen und Sammler überzeugen? Ich habe ja, bevor ich Kunst studiert habe, BWL studiert. Der Kredit ist also da –  sicher auch gewisse Erwartungen an mich. Dieses Mysterium möchte ich mal so stehen lassen.

2025 startet die Galerie mit einer Ausstellung, die Sie auch kuratiert haben: "Saving Private Mythologies" – eine Gruppenschau, die sich mit Kunst und Individualmythen beschäftigt. Sie haben an der Städelschule in Frankfurt studiert. Lernt man da schon früh, einen gewissen Künstlermythos zu pflegen?

Es ist eine Black Box. Der Mythos kommt in der Regel erst im Nachhinein, wenn der Erfolg schon da ist. Dann fragt man sich: Wie hat die oder der das gemacht? Die waren doch in derselben Klasse wie ich und haben nur rumgelungert! Nichts Schlaues gesagt oder irgendetwas Gutes produziert, und jetzt sind sie plötzlich die Superstars!

Was hat die oder der denn gemacht?

Genau das wird offenbar nicht explizit gelehrt. Kann es ja gar nicht. Vielleicht gibt es eine Genealogie, aber ich bin mir nicht sicher. Als Martin Kippenberger an der Städelschule gelehrt hat, war Tobias Rehberger bei ihm Student – vielleicht gab es da einen Transfer, wie das gemacht wird. Ich würde gern den Mythos aufrechterhalten, dass es so ist. Aber aus der eigenen Erfahrung kann ich sagen, dass Tobias Rehberger als Professor gerade nicht darauf aus war, Seilschaften zu kreieren. Im Gegenteil. Er wollte Fairness. Er hat sich nicht einzelne Leute herausgesucht wie Kippenberger, der seine Studierenden dann zu seinen Galeristen mitgeschleppt hat. Aber genau so bin ich auf das Ausstellungsthema gekommen: Weil es in meinem Umfeld so drei, vier Positionen gab, die genau das schon früh zu pflegen gewusst haben: einen Mythos um sich aufzubauen. Die Künstlergruppe Frankfurter Hauptschule zum Beispiel ist für mich sehr wichtig. Sie haben das nicht irgendwie unbewusst gemacht, sondern sie haben die Klaviatur wirklich perfekt beherrscht. Und noch erweitert. Das, was Joseph Beuys und andere gemacht haben, haben sie perfektioniert.

Dann wird es in der Ausstellung eher nicht darum gehen, besagte Künstlermythen zu entzaubern?

Es wird weder reine Affirmation noch Kritik sein, sondern eher Beobachtung von Strategien. Die dann im besten Fall gute Kunst hervorbringen.

Neben Mitgliedern der Frankfurter Hauptschule – oder vermeintlichen, wie Sie selbst im Ausstellungstext andeuten, so sicher soll man sich nicht sein –, ist zum Beispiel Michael Riedel dabei, der aus den Konversationen mit seinem Ex-Galeristen eine Art Dekonstruktion der eigenen künstlerischen Praxis vorgelegt hat. Die legt den Mythos gleichzeitig offen und befeuert ihn dann wieder auf andere Weise. Aber es wird auch ganz andere Ausformungen von Mythologie geben: zum Beispiel durch Natalia Schumskaya …

… genau, eine Künstlerin aus Russland, die aber schon sehr lange in Deutschland lebt und in Halle studiert hat. Sie ist fast eine Schamanin, würde ich sagen – und sie ist auch eine der Künstlerinnen, wegen denen diese Ausstellung überhaupt stattfindet. Ihre in Trancezuständen gewebten Gobelins visualisieren die Zustände, in denen sie entstehen. Wenn in der Kunstkritik oder in der Galeriearbeit solche Parameter auftauchen: was ist verkaufbare Kunst, was ist relevant? Und dann kommt jemand und sagt "Na, ich nehme eben Verbindung zu einer anderen Welt auf" oder "Ich bin von der Mond- auf die Sonnenseite gewechselt", dann kann man dem mit den üblichen Kunst-Parametern nicht mehr beikommen. Und das finde ich geradezu großartig. Dass Künstlerinnen und Künstler Wege finden, Kunst nach ihren eigenen Parametern zu kreieren.

Das scheint ein Thema zu sein, das Sie sowieso umtreibt: In der übernächsten Ausstellung wird es um Abstraktion als radikalste individuell-künstlerische Form gehen. Mit Stefanie Hollerbach, Jonas Kasper Jensen, Gabriela Kobus, Shannon Brinkley, Enne Haehnle, Frank Nitsche, Thomas Scheibitz oder Carolin Trunk sind Künstlerinnen und Künstler vertreten, die eine jeweils sehr spezifische Bild- und Formatfindung verfolgen. Ist Abstraktion für Sie der ultimative Individualmythos?

Hm. Es ist in jedem Fall eine Beschäftigung mit sich selbst und der Welt, aber eben auf einer Ebene, die nicht per se politisch, aktivistisch oder auf unsere greifbare Umgebung bezogen ist. Dass sich Künstlerinnen und Künstler derart konsequent mit ihren eigenen Parametern beschäftigen, kann erst in einem weiteren Abstrahierungs-Schritt überhaupt wieder für die Gesellschaft nutzbar gemacht werden. Vielleicht so: dass man in der Lage ist, kognitive Dissonanzen für sich selbst einzuschätzen. Oder: dass man in der Lage ist, Paradoxien und Widersprüche zu erkennen.

Sind Individualmythen immer noch sympathischer als kollektive?

Viel sympathischer! Weil sie theoretisch nicht so viel Schaden anrichten können. Aber es kommt natürlich darauf ein, wie diese Mythen eingesetzt werden. Bildende Künstlerinnen und Künstler setzen sie eben für die Kunst ein.

Ein sehr geradliniges Anliegen.

Genau. Aber natürlich kann genau diese Art von Selbstmythisierung – sagen wir lieber: Lügen, de facto eine Deformierung von Wahrheiten – auch sehr gefährlich werden. Wenn sie auf einer größeren, eben nicht mehr individuellen Ebene stattfindet. Wenn Elon Musk oder Donald Trump ihre ganz bestimmten Mythen pflegen und diese als Fakten gesetzt werden, dann führt das eben zu kognitiv dissonantem Wahlverhalten. So möchte ich es mal ausdrücken. 

Zum Schluss noch einmal zu einem Ihrer Künstlermythen: Vor vielen Jahren geisterten Nachrichten von einem Projekt namens "Baby du Champ" durchs Internet. Der Kurator Mathias Ulrich von der Kunsthalle Schirn hat berichtet, es soll eine Ausstellung gegeben haben. Heute finden sich keine digitalen Spuren mehr. Nur in Ihrem Künstler-PDF taucht die Arbeit noch auf. 

Damals war ich noch nicht sehr strategisch und habe entgegen jeglicher Mechanismen gearbeitet. Als mein Kind klein war, sind wir ständig in Ausstellungen gegangen, sie ist überall herumgekrabbelt. Das habe ich begonnen zu dokumentieren, irgendwann ist eine ganze Reihe daraus geworden. Da ich das Baby nicht fragen konnte, ob es damit einverstanden ist, ich die Fotos aber als Kunstprojekt nutzen wollte, habe ich eine eigene Website gebaut – und sie nicht etwa auf Facebook veröffentlicht, was damals üblich war. Das hat dazu geführt, dass es letztlich ein recht obskures Projekt geblieben ist. Ich habe damals eine Ausstellung dazu gemacht, aber es ist nicht viel weiter passiert. Wenn ich es heute auf Instagram gemacht hätte, hätte das viel mehr Spuren hinterlassen.

Unfreiwillig war das vielleicht doch strategisch klug.

Wenn man das im Nachhinein so betrachten möchte, vielleicht. Jetzt ist zumindest das Kind nicht sauer auf mich. Ich hatte das damals in einem eigenen Webprogramm gemacht, das heute nicht mehr existiert. So ist die Seite irgendwann einfach verschwunden. Es gibt nur noch einige Screenshots. Insofern ist "Baby du Champ" gerade vielleicht tatsächlich auf dem Weg dorthin, ein Mythos zu werden. Finde ich gut.