Künstlerin und Aktivistin Haley Mellin

"Ich lege Zeugenschaft ab, ich zeichne auf, ich sorge mich"

Die Künstlerin und Aktivistin Haley Mellin malt vor allem im Freien und investiert den Erlös ihrer Bilder auch in den Schutz von Naturflächen. Hier erzählt sie von ihrem Blick auf den Wald und warum sie trotz Klimakrise und Artensterben Optimistin ist

Haley Mellin malt draußen, in Wäldern zum Beispiel. Ihre Bilder wirken fotorealistisch, aber das täuscht über den eigentlichen Gehalt ihrer Arbeit hinweg. Mellin nennt das beobachtende Malerei, und ihre Kunst ist eng verknüpft mit ihrer Tätigkeit für die Naturschutzorganisation Art into Acres. In der Berliner Galerie Dittrich & Schlechtriem zeigt sie Bilder, die – zum Teil – vor Ort in Naturschutzgebieten entstanden sind. Im Interview spricht sie über das Beobachten und die Fülle und Resilienz der Natur.

 

Haley Mellin, wo malen Sie?

Meine Bilder entstehen aus Beobachtungen. Ich male, wo ich arbeite. In diesem Fall zeigen sie einen alten Nebelwald in Nordguatemala, der gerade von der lokalen Bevölkerung unter Schutz gestellt wurde. Ich benutze dabei ungiftige, kleine Materialien, mit denen ich leicht reisen kann – Gouache statt Öl zum Beispiel. 

Wie lange brauchen Sie für solche Bilder wie die in der Ausstellung bei Dittrich & Schlechtriem in Berlin?

Manchmal ein paar Tage, manchmal Monate. Manchmal beende ich sie im Studio aus dem Gedächtnis, bei anderen muss ich vor Ort fertig werden. Das liegt dann am Wetter, denn Gouache ist wasserbasiert, und in einem Nebelwald ist ziemlich viel Wasser in der Luft. Dann greift die Natur eben ein. Mir ist nicht daran gelegen, dass die Gemälde schön sind. Ich möchte präsent sein und aufzeichnen, was ich sehe. Ich male im Freien, während ich bei der permanenten Konservierung der Landschaft helfe. Aber die Bilder sehen nicht so aus, wie man sich historische Landschaftsmalerei vorstellt. Es gibt keine Horizontlinie, und die Perspektive zerfällt, denn im Wald gibt es so viel Aktivität und so viel Leben. Man ist in einer multiperspektivischen Situation. 

Die Gemälde wirken fast wie Schnappschüsse, beinahe wie Fotos. Ich vermute, das liegt am Fehlen von Perspektive. 

Das stimmt. Es gibt keine Hierarchie, und das Licht ändert sich, während ich male. Bei diesen Bildern versuche ich, so genau wie möglich zu arbeiten, damit die Betrachtenden das Gefühl haben, dass sie vor Ort sind. Ich benutze dafür viele externe Referenzen und Archivmaterial.

Was für Material ist das?

Skizzenbücher zum Beispiel. Deshalb ist auch eins davon in der Ausstellung in Berlin zu sehen. Ich benutze auch topografische Daten. Für die Landkonservierung arbeiten wir mit Karten, und wir schauen uns an, wie Wasserscheiden oder die Landschaft sich bewegen. Auch mündliche Erzählungen über die Geschichte des Waldes können als Quelle dienen. In dieser Ausstellung ist ein Gemälde mit dem Titel "Treefall" zu sehen. Zuerst dachte ich, die dargestellte Lichtung wäre ein menschlicher Eingriff, aber ein Biologe hat mir erklärt, dass dort ein Baum umgestürzt ist und jetzt Neues wachsen kann. Ich wollte ein Gefühl der Fülle vermitteln – eine Umweltschützerin ist immer optimistisch.

Was bedeutet das?

Ich würde diese Arbeit ohne Optimismus nicht machen. Man muss an die Langlebigkeit, Gemeinschaft und Respekt glauben. Und ich wollte, dass die Stärke und Intelligenz biodiversen Lebens in dieser Ausstellung durchkommt. 

Sie haben über die Veränderungen im Wald gesprochen. Wahrscheinlich ist der Ausblick morgens auch ganz anders als mittags. Trotzdem gelangen Sie am Ende zu einem einzigen Bild. 

Die Farbe ändert sich auch, denn sie dunkelt nach. Wenn ich male, sehe ich die Orte zu verschiedenen Tageszeiten, aber das finale Bild vermittelt alle davon. Wenn ich das Gebiet fotografieren würde, würde es nicht passen. Das Foto fühlt sich nicht real an. 

Warum machen Sie eigentlich nicht einfach Fotos?

Ich habe mit 13 mit Aquarellen angefangen. Ich habe immer gemalt, was mir vor Augen war, ob das eine Kakifrucht ist oder ein Berg. Aufzuzeichnen, was man sieht, darin liegt eine Herausforderung. Und darin, das Gefühl und die Erscheinung wiederzugeben. Wenn ich Fotos als Referenzmaterial aufnehme, dann sehen sie nie richtig aus. Sie wissen, wie iPhone-Fotos sind. Die Farben sind zu grell, die Dinge sind überbelichtet. Die Disziplin und die Geschichte der beobachtenden Malerei interessieren mich. 

Wenn Sie das so sagen, muss ich sofort an die französische Plein-Air-Malerei des 19. Jahrhunderts denken.

Ja, das ist eine inspirierende Zeit für die Malerei. Ich betrachte aber auch die Gärten, die Lucien Freud gemalt und gezeichnet hat, oder japanische Tuschezeichnungen. Es gibt ein Buch der Essayistin Elaine Scarry, "On Beauty and Being Just". Sie spricht davon, nicht im Mittelpunkt zu stehen. Dieser Effekt ergibt sich, wenn man draußen in der Natur ist. Wenn wir die Natur beobachten, sind wir nicht mehr im Mittelpunkt unserer Geschichten. Wir werden eines anderen Wesens gewahr, und das beruhigt. 

Wie stehen Sie dann Ihren Sujets gegenüber? Sie betreiben ja keine Taxonomie des Walds. 

Ich respektiere die Spezialistinnen in diesem Bereich. Die gemeinnützige Organisation Art into Acres hat erst kürzlich ein Forschungs- und Reisestipendium für junge Botaniker ausgelobt, die neue Arten benennen. Kenne ich alle Arten, die ich betrachte? Nein! Ich habe kürzlich ein Leseheft mit dem Titel "On Biodiversity and Betadiversity" geschrieben. Ich wollte mehr über Artenvielfalt lernen. Wir wissen einfach nicht, wie viele Arten es auf unserem Planeten gibt. Die Wissenschaft geht von etwa 8.7 Millionen aus. Ein Siebtel oder Achtel davon ist beschrieben. Das heißt, ziemlich viele sind einfach unbekannt. Mir gefällt, dass der Schutz von Land auch das Habitat von Arten konserviert, die wir noch gar nicht kennen, für die wir nicht einmal Namen haben. Beim Malen arbeite ich nicht botanisch, ich arbeite mit dem, was ich sehe. 

Von weitem sehen ihre Bilder fast fotorealistisch aus, aber bei näherer Betrachtung schimmern die Blätter in Farben, die sie eigentlich nicht haben, und die Baumstämme sind so tiefschwarz, wie sie es in echt wahrscheinlich nicht wären. 

Ich habe auf jeden Fall viel über Grüntöne gelernt. Diese Gemälde sind auch sehr schwer zu fotografieren. In meiner Doktorarbeit ging es um die Aura und die Präsenz von Malerei im Digitalen: Wie sieht man ein Gemälde, und lässt es sich digital abbilden?

Das sind gleich grundlegende Fragen der Wahrnehmung. 

Mich interessiert Malerei als eine Geschichte dessen, worum sich Menschen über die Zeit gesorgt haben. Das Wort kuratieren kommt vom Lateinischen cura, das heißt "Sorge tragen". Das hat auch mit dem Bewahren zu tun. 

Sie haben eben von Erzählungen gesprochen. Wovon erzählen Ihre Bilder?

Ich lege Zeugenschaft ab, ich zeichne auf, ich sorge mich. 

Also wieder cura.

Ja. Gemeinschaft und Zugänglichkeit interessieren mich bei der Malerei. Denn ein wichtiger Aspekt meiner Praxis ist, den Naturschutz einem Kulturpublikum zugänglich zu machen. Art into Acres ist eine gemeinnützige Organisation, für die Künstlerinnen und Sammler ein Kunstwerk spenden, oder bei der ein Museum finanziell unterstützt, und das unterstützt die Schaffung von großen geschützten Gebieten. Das können zum Beispiel von indigenen Gemeinschaften betreute Gebiete sein oder Nationalparks. Die Einnahmen durch Kunst werden durch private Stiftungen ergänzt. Das alles deckt Rechts- und Verwaltungskosten ab, die Vermessung und die biologische Erfassung. In manchen Fällen gehört dazu auch Unterstützung für indigene Menschen, damit sie rechtmäßig im Besitz des Landes bleiben. 

Es geht also nicht einfach darum, das Land zu kaufen?

Die meisten geschützten Gebiete sind öffentlich oder in der Hand von Gemeinschaften vor Ort, sie können also kein Privateigentum sein. Diese Art von Naturschutz interessiert mich. Bei einigen Projekten kaufen die Gemeinschaften das Land, wenn es zuvor Privateigentum war. Aber das ist ziemlich teuer und ein seltenes Vorgehen. 

Wie ist der zukünftige Schutz dieser Gebiete gesichert? 

Die Gebiete für den dauerhaften Schutz werden nach verschiedenen Faktoren ausgewählt. Die Frage, ob sich lokale und indigene Gemeinschaften um den Erhalt kümmern können, ist zum Beispiel wichtig. Legale, soziale und wirtschaftliche Maßnahmen spielen auch eine wichtige Rolle, je nachdem, in welchem Land wir arbeiten. Es gibt bestimmte Formen des Naturschutzes, die nicht rückgängig gemacht werden können. Und dann habe ich noch in vielen entlegenen Gebieten gearbeitet, in die keine Straßen führen. Das Erbe der Erde ist wichtig, genauso wie die Dauerhaftigkeit biodiverser Gebiete. 

Warum heißt Ihre Ausstellung eigentlich "Biodiversity and Betadiversity"?

Der Titel ist eine Hommage an den Ökologen Thomas Lovejoy, mit dem ich gearbeitet habe. Er hat den Begriff "Biodiversität" geprägt. "Betadiversität" ist ein neuer Begriff, den man als eine komplexe Biodiversität verstehen kann, wo alles Lebendige sich überlagert, sodass es Redundanzen gibt. An jeder Stelle eines solchen komplexen Netzwerks können verschiedene Arten einen Knotenpunkt übernehmen. Wenn eine Spezies verschwindet, kann eine andere ihre Rolle übernehmen und das Netz bleibt intakt. Der Kilimanjaro zum Beispiel ist ein betadiverses Gebiet. 55 Prozent der Erdoberfläche lässt sich mit keinem Fahrzeug erreichen, und die Erde hat viele entlegene und intakte Regionen. Über diese Resilienz der Natur lernen wir gerade erst. Ich finde das ziemlich aufregend—wir sind in der Position von Schülerinnen.